Warum wohl denkt eine Frau, die mit ihren Kindern in Arusha wohnt, dass es eigentlich nur eine Pädagogik gibt, die sie von ganzem Herzen unterstützen will? Weltweit befinden wir uns in einem Waldorfgründungsboom. Zwischen 1987 und 2018 hat sich die Waldorfschulbewegung von 432 Schulen in 26 Ländern auf 1.150 Schulen und 1.817 Kindergärten in 72 Ländern fast verdreifacht. Und würde man die noch nicht auf der Weltschulliste vermerkten Schulinitiativen mitzählen, käme man auf weit höhere Zahlen.
Das alles entstand aus einer Zeitnotwendigkeit oder aus dem Impuls eines einzelnen Menschen – je nachdem, wie man schaut. Nach der ersten Kriegskatastrophe des 20. Jahrhunderts erstand in den Ruinen eine innere Offenheit und ein Bedürfnis nach einer ganz anderen Haltung – auf vielen Ebenen. Meistens erleben Menschen erst auf den Ruinen einer vergangenen Ordnung die Sehnsucht nach Neuem und wissen, dass Neues wirklich notwendig ist. Emil Molt ging es um eine gesellschaftliche Neuorientierung. Mit einer Schule wollte er sowohl zu einem neuen gesellschaftlichen Fundament beitragen, als auch benachteiligten Kindern eine echte Bildungschance eröffnen. Er bat Rudolf Steiner um pädagogische Begleitung; zusammen beriefen sie E. A. Karl Stockmeyer und Herbert Hahn als Mitarbeiter für die nächsten Vorbereitungsschritte. Dank Berthold Heymann, dem damaligen Kultminister in Baden-Württemberg vom 9. November 1918 bis zum 31. Oktober 1919 erhielten sie eine Schulgenehmigung, dank Emil Molt die Finanzierung, dank E. A. Karl Stockmeyers Reisen die Lehrer – nur um die Schüler mussten sie sich keine Sorgen machen, denn die kamen in Strömen.
Aus dieser nach Ost, West, Nord und Süd gut vernetzten Keimzelle entstanden bis 1933 21 weitere Waldorfschulen in acht anderen europäischen Ländern sowie in den USA. Es handelte sich um Pionierschulen mit all den Vorzügen und Nachteilen, die Unerfahrenheit, Wagemut, pädagogisches Ungeschick oder Geschick und eine ganz neuartige Zusammenarbeit in der Verantwortung für eine Organisation mit sich bringen. Auf den Wogen des unbeugsamen und unerschütterlichen Enthusiasmus der Lehrerinnen und Lehrer liebten die Schüler ihre jeweilige Schule und wollten sie nicht missen. Mit den nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten verordneten oder selbst vorgenommenen Schulschließungen ging eine innere Emigration der Lehrer und Schüler in den europäischen Ländern einher, bis auf die Schweiz, wo unbeeindruckt weitergearbeitet wurde. Gleichzeitig ereignete sich eine meistens erzwungene äußere Emigration in die USA und nach Lateinamerika.
Während die Entwicklung der Waldorfpädagogik in Lateinamerika in den 1960er und 1970er Jahren vor allem durch europäische Emigranten in Gang gesetzt wurde, lebte in den englischsprachigen außereuropäischen Ländern, also den USA, Australien und Neuseeland sowie in Südafrika, ein originäres Interesse an einer neuen Pädagogik, das seit den 1920er Jahren insbesondere durch das New Education Movement gepflegt wurde. Die meisten Initiatoren der Waldorfschulen in den englischsprachigen Ländern entstammten dieser Bewegung. Insofern muss das Bild korrigiert werden, dass die Waldorfpädagogik durch Exilanten in die englischsprachigen Länder gebracht worden sei. Es sind zwei Wurzeln, aus denen die weltweite Entwicklung der Waldorfschulbewegung hervorwuchs: eine deutschsprachige Wurzel in Stuttgart, Basel und Dornach und eine englischsprachige Wurzel durch die zunächst von dem New Education Movement organisierten Vorträge Rudolf Steiners in Oxford und in Torquay, Ilkley.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden in Europa die Waldorfschulen wieder aufgebaut, in größerer Zahl als zuvor, und es entstanden in den Ländern, in denen die politischen Verhältnisse es erlaubten, Pionierschulen (wie etwa in Belgien und Frankreich, in Brasilien, in Chile oder Neuseeland und Australien). Die beteiligten Menschen waren sich der ideellen Grundlage der Waldorfpädagogik sehr bewusst und arbeiteten mit großer Ernsthaftigkeit an diesen inspirierenden Grundlagen, auch wenn sie methodisch nicht über so ausgeklügelte Verfahren verfügten, wie sie heute üblich sind. Den Schülern kam es, wie immer, auf das Interesse an, das sie miteinander und mit den Lehrern verband. Erst die politische Wende 1989 läutete das eigentliche quantitative Wachstum der Waldorfbewegung ein – und zwar nicht nur in Mittel- und Osteuropa, sondern auch in Afrika und Nord- und Südamerika. In Mittel- und Osteuropa führte die Sehnsucht nach Selbstbestimmung zur Gründung vieler freier Schulen, aber auch in Israel begann 1989 eine allererste Waldorfschule oder in Kenia.
Mit dem quantitativen Wachstum gingen neue Phänomene einher. Die Waldorfpädagogik wurde zum ersten Mal in das staatliche System integriert – so in Rumänien und Russland. Der Lehrerbedarf wuchs immens und zog einerseits eine gewisse Professionalisierung nach sich, andererseits aber auch eine Vernachlässigung der inneren Werte.
Mit Beginn des 21. Jahrhunderts veränderte sich das Bildungswesen weltweit. Die in den Büroetagen der Weltbank und des IWF ersonnenen neoliberalen Konzepte wurden weltweit im Bildungswesen implementiert, manchmal offenkundig wie in allen lateinamerikanischen Ländern, deren Kreditwürdigkeit von der Einführung dieser Konzepte abhängig gemacht wurde, manchmal versteckter und mit schöneren Worten wie »Vergleichbarkeit« und »Chancengerechtigkeit« verkleidet, so in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union.
Nach fast einhundert Jahren waldorfpädagogischer Erfahrung und in einer globalisierten, zunehmend von digitalen Medien geprägten und von den ökonomischen Heilskonzepten der Gegenwart beherrschten Welt, stellt sich die Frage der Zukunftsfähigkeit jeglicher Pädagogik neu.
Eine Pädagogik für den Menschen ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Und wenn die Waldorfbewegung auch in Zukunft eine Pädagogik für den Menschen sein möchte, muss sie jetzt aufwachen und dafür kämpfen.