Eintauchen in die Erde

Karsten Massei

Die Erde und ihre zahlreichen Wesen sind uns auf eine Weise entfremdet, dass wir uns kaum mehr getrauen, sie als unsere Geschwister zu bezeichnen. In den Pflanzen und Tieren Wesenheiten zu erleben, denen man zuallererst Achtung entgegenbringt, sind wir nicht mehr gewohnt. Sie sind Dinge, vor allem nützlich, Gebrauchsgegenstände, die einen Preis haben und Profit versprechen.

Verlust der Göttin

Zu Zeiten des griechischen Tragödiendichters Aischylos war das anders. In seiner Tragödie Die Schutzbefohlenen wird die Erde selbstverständlich als eine schutz- und trostgebende Göttin angerufen. Eine Gruppe fliehender Frauen, die in Bedrängnis gerät, ruft zur Mutter Erde gewandt: »Gnade uns! Wende das Entsetzliche ab!«

In der Erde eine Göttin zu erleben und in Pflanzen und Tieren Wesen, die ihr entsprossen sind, ist für uns nur schwer anzunehmen. Die Vorstellung überfordert uns; selbst wenn wir zu dieser Göttin gelangen wollten, stehen uns Widerstände entgegen, die wir aber nur schwer genauer bezeichnen können.

Für den Blick auf die Erde als eine Wesenheit scheinen uns die einfachsten Voraussetzungen zu fehlen.

Das Paradox tritt hinzu, dass wir die Erde in eine Situation gebracht haben, in der ihr natürliches Gleichgewicht offensichtlich schwindet. Die Göttin, die sie einst war, ist zu einem Ding herabgewürdigt worden, dem wir Eingriffe und Verletzungen ohne Ende zumuten.

Wesenhaftes wahrnehmen

Die vertiefte Wahrnehmung zeigt, dass die Natur voller Wesen und Wesenheiten ist. Wer sich die Zeit nimmt, sich ihr auszusetzen, wird darüber keine Zweifel haben. Er wird spüren, dass er von einer Wesenswelt umgeben ist. Je mehr er sich den Eindrücken überlässt, die die Naturerscheinungen auf ihn machen, desto eher wird er auf eine Unmittelbarkeit des Erlebens aufmerksam, die ihm die Tore zum Wesenhaften der Welt öffnet. Man darf sich nur nicht mit den ersten Eindrücken zufrieden geben. Es ist nötig, achtsam und mit einem langen Atem vorzugehen. Die Natur gibt ihre Rätsel nur frei, wenn man hingebungsvoll auf sie lauscht. Mit der Zeit setzt sich die Erkenntnis durch, dass es nicht der intellektuelle, verstandesmäßige Mensch, sondern der empfindende und fühlende ist, dem sich die verborgenen Naturwesen mitteilen.

Der Missbrauch, der an der Erde getrieben wird, wird durch solche Erfahrungen immer unerträglicher. Sensibilität für das Wesenhafte besitzen heute viele Menschen als eine natürliche Gabe, vor allem jüngere. Sensibilität ist Empfindsamkeit für die Schmerzen, die anderen Wesen dadurch zugefügt werden, dass sie würdelos und grausam behandelt werden. Der Schmerz, der in der heutigen Welt den Tieren, den Pflanzenwesen, aber auch der Erde angetan wird, ist tatsächlich unermesslich. Er teilt sich sensiblen und mitfühlenden Menschen auf vielfältige Weise mit, oft ähnlich einer atmosphärischen Erscheinung; er liegt in der Luft. Dass das sehr unangenehme Erlebnisse sind, dürfte klar sein.

Der Mensch erlebt die Natur – und die Natur den Menschen

Eine Wesenserfahrung – gleich ob Pflanze, Tiere oder Mensch – kann nur gelingen, wenn man sich von der Idee löst, in ihnen Objekte vor sich zu haben. Es ist ein Trugschluss, zu meinen, Wesensbegegnungen geschähen am Objekt. Die Tiefen, die in jedem Wesen sind, seine verborgenen seelischen und geistigen Dimensionen, werden mir nur zugänglich, wenn ich meiner eigenen gewahr werde. Es sind meine geheimnisvollen und verborgenen Wesensdimensionen, die mir erlauben, dem anderen Wesen in seiner wahren Fülle zu begegnen. Die Schlüssel dazu liegen in mir. Das Wesen eines Pferdes oder Baumes offenbart sich erst, wenn man sich seiner inneren Natur mit der eigenen Seele annähert. Wesenserfahrung und Wesenserkenntnis sind Stufen der Vereinigung der eigenen Seele mit der inneren Natur des anderen Wesens. Wenn ich mein Seelisches als Organ der Wahrnehmung begreife, werde ich auch das Seelische, das Wesenhafte eines Pferdes oder eines Baumes erkennen können.

Als Beobachtender, der nach Wesenserkenntnis sucht, muss ich fühlen können, dass das andere Wesen erlaubt, dass ich mich ihm zuwende. Diese Erlaubnis lässt sich nur im lauschenden Zwiegespräch einholen. Dieses Gespräch zu suchen ist für das andere Wesen eine bedeutende Erfahrung. Der Baum, das Pferd, der Fluss, die Landschaft fühlen den Menschen, der hinzutritt, auf eine besondere Weise. Sie fühlen seine Individualität. Das mag überraschen. Je intimer die Seele mit den Erscheinungen der Natur zusammenwächst, desto klarer wird dieser Zusammenhang. Nicht nur der Mensch erlebt die Natur, die Natur erlebt auch den Menschen.

In Ehrfurcht nehmen

»Aus den ältesten Gebräuchen der Völker scheint es wie eine Warnung an uns zu ergehen, im Entgegennehmen dessen, was wir von der Natur so reich empfangen, uns vor der Geste der Habgier zu hüten. Denn wir vermögen nichts der Muttererde aus Eigenem zu schenken. Daher gebührt es sich, Ehrfurcht im Nehmen zu zeigen, indem von allem, was wir je und je empfangen, wir ein Teil an sie zurückerstatten, noch ehe wir des Unseren uns bemächtigen«.

Diese Sätze stammen aus dem Buch Einbahnstraße von Walter Benjamin. Sie führen uns in das Verhältnis von Geben und Nehmen. Wir sind der Erde gegenüber immer Nehmende und Gebende. Heute werden wir auf dieses Verhältnis auf recht unsanfte und schmerzliche Weise aufmerksam. Mit aller Macht stellen sich sehr unbequeme Fragen. Die Errungenschaften unserer Kultur und Wissenschaft entpuppen sich als Strategie, mit der wir die der Erde innwohnende Harmonie unwiderruflich zerstören können. Was uns einerseits mit Stolz erfüllt, nämlich die rasante Entwicklung und der Fortschritt unserer Zivilisation, löst Scham und Verzweiflung aus, wenn man auf die dramatischen Folgen schaut, die daraus für die Erde entstehen. Offensichtlich haben wir das Geben verlernt.

Das ruft nach einer Umkehr. Die kann aber nur darin liegen, die Erde als eine Wesenheit zu begreifen. Das ist die Voraussetzung dafür, das Geben und Nehmen zu verstehen, das sich zwischen uns und der Erde ereignet. Nur dem Materiellen Glauben zu schenken, erzeugt eine unnötige Verengung des Blicks, die nie zu einer wirklichen Begegnung führt. Sie ist aber nötig, um zu verstehen, was sich zwischen uns und der Erde und ihren Wesenheiten ereignet.

Der besondere Blick

Es ist mitunter ein langer und einsamer Weg, mit dem Wesenhaften der Natur vertraut zu werden. Nur wer unzählige Stunden an Bäumen, in Wäldern, an Flüssen, in den Bergen in stiller Betrachtung verbracht hat, wird die nötigen Seelenstimmungen, die innere Ruhe und den besonderen Blick finden. Damit ist jener Blick gemeint, der sowohl den Sinnestatsachen gilt, als auch nach dem Inneren gerichtet ist. Er ist nach außen und nach innen wach. Denn die Naturwesen sprechen durch die Seele des Menschen. Die Weisheitsnatur der menschlichen Seele ist das Medium, die Wesenssphäre, die den Naturwesen und -geistern die Stimme verleiht, durch die sie für uns hörbar werden. Es geht darum, die eigene innere Welt als jene weisheitsvolle kennen zu lernen, die sie ist. Nur insofern der einzelne Mensch sie in sich gewahr wird, wird er verstehen können, worin das Geben und Nehmen zwischen ihm und den Naturgeistern in Wahrheit besteht. Wesensbegegnungen sind unweigerlich immer auch Seelenbegegnungen.

Damit zeigt sich, dass es um die Erfahrungen der eigenen inneren Quellen geht, wenn man der Natur auf eine tiefere Weise zu begegnen wünscht. Die Naturgeister geben ihre Geheimnisse nicht leichtfertig preis. Sie prüfen denjenigen, der in ihre Welt eindringen möchte. Im Märchen Das Wasser des Lebens kann nur der jüngste der drei Brüder sich der Hilfen eines Naturgeistes, hier eines Zwerges, versichern, weil er ihm Rede und Antwort steht. Er weist seine Frage nicht wie seine Brüder zurück, sondern antwortet ohne Vorbehalte. Das erst gibt dem Zwerg die Möglichkeit, sich dem jüngsten Bruder zu offenbaren und ihm den entscheidenden Hinweis zu geben, durch den er die Lösung findet.

In Berührung mit dem Wesenhaften der Natur zu kommen, bedeutet, einen inneren Weg zu gehen – einen Weg der inneren Wandlung. Man muss sich mit den Wesen der Natur vertraut zu machen wünschen, auf dass man von ihnen erzogen wird. Jene Wesenheiten, die in den alten Bäumen, den Flüssen, Bergen und Landschaften, aber auch in den Kristallen, den Pflanzen leben, die mit dem Dasein der Tiere vereint sind, sind immer auch Lehrmeister des Menschen. Es ist eine reale Erfahrung, dass man sich selbst nicht aus dem Wege gehen kann, wenn man beginnt, mit den Naturgeistern in ein Zwiegespräch zu treten. Sie tun alles dafür, dass man auf sich selbst aufmerksam wird. Das heißt aber, man lernt sowohl in seine Schatten als auch in sein Licht zu schauen. Die Unvollkommenheit und die Vollkommenheit des eigenen Wesens leuchten gleichermaßen auf.

Es geht den Naturgeistern darum, dass wir üben, den Blick auszuhalten, der weder vor unseren Abgründen noch vor unserem reinen und vollkommenen Wesen zurückschreckt. Es ist nicht falsch, wenn man sagt, dass die Naturgeister uns gegenüber im Sinne einer kosmischen Psychologie wirksam werden wollen. Der Blick, vor allem der hohen Naturgeister, ist durchdringend; ihnen bleibt von uns recht wenig verborgen. Der Geist eines alten Baumes ist solch eine Wesenheit. Es lohnt sich, längere Zeit an seinen Stamm gelehnt zu verbringen. Oder unter seinen ausgreifenden Ästen zu liegen und in den Himmel zu schauen. Man wird seine Aufmerksamkeit, seine Zuwendung, seine Sorge spüren können, die unzweifelhaft der eigenen Individualität gilt. Die unerwartete Geste ist besonders berührend. Mit Staunen und Gewissheit fühlt man: Der Naturgeist ist an mir interessiert! Von Friedrich Hölderlin sind folgende Verszeilen überliefert:

»Die Linien des Lebens sind verschieden
Wie Wege sind, und wie der Berge Grenzen
Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen
Mit Harmonie und weitem Lohn und Frieden«

In diesen Worten liegt etwas von der Stimmung, die zwischen der Seele des Menschen und den verborgenen Wesenheiten der Natur lebt. Es ist ein Gegenseitiges, ein Zusammenklingendes, das uns mit der Erde und ihren Wesen verbindet, eigentlich vereint. Als Menschen, die auf der Erde leben, sind wir Teil einer überragenden Harmonie. Die Erde besteht aus dem Zusammenklang einer unübersehbaren Zahl und Variation von verschiedensten Wesenheiten. Es ist ein Lernweg, der uns bevorsteht, den Zusammenklang als Wirklichkeit zu erleben. Im Grunde ist es ein meditativer Weg, der zur Erfahrung dieser Wirklichkeit führt. Wir können uns als Teil von ihr erleben, wenn wir die Erfahrung machen, dass in uns die Möglichkeit schlummert, als seelische und bewusste Wesen Zugang zu ihrem Zusammenklang zu finden.

Zum Autor: Karsten Massei erforscht seit vielen Jahren die Phänomene des Lebens mit den Methoden der übersinnlichen Wahrnehmung. Er ist Autor mehrerer Bücher, Seminarleiter und unterrichtet an einer heilpädagogischen Tagesschule in der Schweiz.