Ausgabe 04/24

Elternengagement und Selbstverwaltung

Katrin Kühne

Katrin Kühne | Frau Wispler, Sie waren lange Zeit Geschäftsführerin in einem Kindergarten und an der Rudolf Steiner Schule Bochum. Welche herausfordernden Themen beschäftigen Waldorfeinrichtungen Ihren Erfahrungen nach?

Elisabeth Wispler | Was die Organisationsweisen oder Arbeitsformen in Waldorfeinrichtungen angeht, ist meine Erfahrung eigentlich immer eine ambivalente. Auf der einen Seite ist da ein großes identitätsbildendes Moment, dass man sagt, wir arbeiten gemeinsam auf Augenhöhe, kooperativ an unserer Pädagogik. Der Begriff Selbstverwaltung ist für viele sehr zentral. Auf der anderen Seite gibt es Ineffizienzen, informelle Macht, Verantwortungsdiffusion, das Scheitern am eigenen Anspruch. Diese Gleichzeitigkeit begegnet mir in allen Formen, sei es in der eigenen Arbeit als auch in der Beobachtung von außen.

KK | In einem Promotionsprojekt an der Alanus Hochschule im Fachbereich Bildung haben Sie sich dem Thema Selbstverwaltung auf einer wissenschaftlichen Ebene angenommen und Ihre Erkenntnisse nochmals in einem Buch aufbereitet. Dieses ist seit März in der Edition Waldorf erhältlich. Wie kam es zu diesem Projekt?

EW | In meiner praktischen Arbeit habe ich immer wieder, wie eben beschrieben, erlebt, dass sich Menschen einerseits gegenseitig bestärken und andererseits gleichzeitig entnervt sind. Was ist denn Selbstverwaltung überhaupt? Es sind starke Gefühle im Raum, aber begrifflich ist wenig geklärt. Ich wollte gerne wissen: Was bedeutet dieses besondere Organisationsprinzip im Alltag konkret? Welche Erfahrungen haben wir bereits? Diesen Impuls habe ich mit dem Promotionsprojekt wissenschaftlich aufgegriffen und an sechs deutschen Waldorfschulen Interviews mit Lehrenden und Eltern geführt. Mein Ziel war es, die gelebte Praxis in den Schulen zu verstehen. Ich wollte konkrete Beispiele und Verfahren finden, die sich bewähren und auch für andere Schulen Anregung sein könnten.

KK | Was bedeutet Selbstverwaltung?

EW | Zum einen steckt dahinter die Idee Rudolf Steiners, dass die Schule autonom sein soll, das heißt, nicht von äußeren wirtschaftlichen und öffentlichen Vorgaben beeinflusst. Autonomie ist aber kein Selbstzweck, vielmehr soll ein Freiraum entstehen, in dem Pädagogik ganz vom Kind her gedacht werden kann. Auch die Idee einer Schule ohne Direktorat war schon immer wichtig, also eine kooperative, egalitäre Arbeitsweise im Kollegium und eine gewisse Ablehnung von zu starren Strukturen. In der Zeit vieler Schulgründungen in den 1970er und 80er Jahren hat man das sehr basisdemokratisch ausgedeutet. Daher auch dieses Bild: Alle Kolleg:innen sitzen im Kreis und führen zusammen die Schule. Mittlerweile haben die meisten Schulen sehr vielfältige Führungsstrukturen. Dabei arbeiten sie weiter ohne zentrale Autorität, vielmehr nach dem Prinzip der Delegation. Das Kollegium beauftragt hier Menschen aus seiner Mitte damit, bestimmte Aufgaben oder Funktionen für eine befristete Zeit zu übernehmen – das kann auch die gesamte Schulleitung sein. Im Konkreten sieht das aber sehr unterschiedlich aus.

KK | Elternarbeit ist im Zusammenhang mit Selbstverwaltung in Waldorfeinrichtungen ein zentrales Thema. Wie sieht die Rolle der Eltern konkret aus?

EW | Eltern haben traditionell eine zentrale Rolle. Viele Schulen sind von Eltern gegründet worden, mit unheimlich hohem Einsatz. In den Schilderungen, die ich kenne, waren Eltern und Lehrende auch weniger getrennt. Erst nach und nach haben die Lehrenden die Verantwortung für die Schulen übernommen. Wenn eine Schule dann existiert und es die Gründungsenergie nicht mehr braucht, stellt sich die Frage nach der Rolle der Eltern neu. Hier würde ich sagen, gibt es zum einen die pädagogische Zusammenarbeit, die sich auf das einzelne Kind bezieht, für das man gemeinsam die Verantwortung trägt. Ein ganz wichtiger Teil ist auch die Unterstützung von Klassen, vor allem bei Sonderprojekten, Klassenfahrten, Festen und Klassenspielen – ganz konkret zur Entlastung der Lehrenden, aber auch zur inneren Beteiligung der Eltern an dem, was die Schüler:innen an Entwicklungswegen gehen. Die unternehmerische Mitverantwortung der Eltern zeigt sich noch immer in der Vereinsstruktur und häufig in der Mitarbeit im Vorstand. Zudem tragen die Eltern durch ihre Beträge den Schulbetrieb finanziell bei.

KK | Waldorfeinrichtungen klagen schon länger über eine mangelnde Elternbeteiligung. Woran könnte dieser Rückgang liegen?

EW | Ich fange mal so an: Waldorfschulen kommen aus einer anderen Zeit. Einerseits aus der Gründungssituation, die Elternarbeit oft vorausgesetzt hat und ganz selbstverständlich war. Andererseits aus einem anderen Familienbild: Die Eltern, oft die bildungsbürgerliche Mutter, die mit viel Zeit und Raum den Schulweg ihrer Kinder begleitet, bereichert und die Schulen entlastet und ganz viel eingebracht hat. Ich glaube, dass wir heute in einer Zeit leben, in der für diese Aufgabe neben der Zeit für die eigenen Kinder und die Familie sowie mit einem oft ausfüllenden Berufsleben nicht mehr viel Raum ist. Schulen machen sich diese Spannung aber oft nicht so ganz bewusst. Trotzdem ist Elternarbeit Teil des Ganzen. Aber ich glaube, dass wir heute woanders sind, und deswegen ist die Frage der Formen natürlich eine ganz wichtige.

KK | Was halten Sie von Pflichtstunden für Elternmitarbeit in Waldorfeinrichtungen, die auch finanziell ausgeglichen werden können?

EW | Wenn das Modell die Engagierten und die, die sich weniger beteiligen, entlastet, kann es vielleicht ein gutes Instrument sein. Ich habe das immer wieder beobachtet. Man erlebt eine Ungerechtigkeit und versucht sie zu lösen. Meine Erfahrung ist aber auch: So ein Modell hat Folgen. Man fängt an, alles, was man tut, zu dokumentieren und kommt dann in so ein Arbeitsverhältnis, in dem meine Pflicht und mein Tun ausbalanciert werden. Es besteht die Gefahr, dass die bisher selbstverständlich Engagierten plötzlich nach dem erfüllten Soll aufhören, mitzumachen. Und auch in diesem Modell gibt es immer diejenigen, die sich rausziehen und nicht zahlen. Der Fokus des gemeinsamen Tuns für eine schöne Sache verengt sich auf diese Ungerechtigkeit. Da kann sogar mehr Wut im System entstehen.

KK | Wie gelingt die Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern innerhalb der Selbstverwaltung? Wie wird Elternmitarbeit bestärkt?

EW | Ich glaube, dass es vor allem um positive Energie geht. Die Eltern, mit denen ich gesprochen habe, machen das gerne und nehmen ihr Engagement als eine Bereicherung für ihr Leben wahr. Einzelne sind durchaus zu hohem Einsatz bereit und bringen oft viel Expertise mit. Jurist:innen, Unternehmer:innen, Mediator:innen, Eltern aus sozialen Berufen – alle möglichen Professionen werden klassischerweise über den Vorstand integriert. Heute arbeiten in einigen der untersuchten Schulen Elternvertreter:innen in schulleitenden Gremien mit. Man schätzt die etwas distanziertere Perspektive. Gerade auch bei der Personalarbeit wurden da gute Erfahrungen gemacht. Daneben sind die schon traditionellen Elternforen wichtig. Es geht um Gesprächsformate, um gegenseitiges Gehört-werden. Oft werden hier übergreifende Regeln im Schulalltag vereinbart, wie Medienkonzepte. Ich glaube auch, dass ein Loslassen der Schulen von diesen alten bildungsbürgerlichen Idealen wichtig ist. Vielleicht ist Elternmitarbeit nicht mehr so sehr ein breites Phänomen, das zwangsweise an jeden geht. Es sollte einfach Spaß machen dürfen, sei es bei pädagogischen Aktivitäten mit den Kindern oder in der Schulorganisation. Daher scheint es mir wichtig, bestimmte Eltern zum Mitmachen wirklich einzuladen. Wenn ich voll berufstätig bin in einem Job und nebenher noch meine Familie unterbringen will, dann möchte ich vielleicht nicht backen und an den Ständen stehen. Das tut man vielleicht auch mal, gar keine Frage. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass, wenn man sich qualifiziert einbringen kann und dann auch eine gewisse Selbstständigkeit in Projekten bekommt, es sehr bereichernd sein kann – für Eltern und Schule.

KK | Vielen Dank für das Gespräch!

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