Waldorflernt

Entwicklungsaufgaben, Lehrplan und Literacy

Ulrike Sievers
Martyn Rawson

Vielleicht verlangen diese Herausforderungen sogar ein Umdenken hinsichtlich unserer klassischen Vorstellung von der Form und Funktion von Schule, vom Lehrplan, von Lehren und Lernen, und von der Lehrer:innenbildung. #waldorflernt wagt es, solche Fragen zu stellen und die Auswirkungen für die pädagogische Praxis zu diskutieren. In dieser Folge werfen wir ein Schlaglicht auf die komplexe Thematik des Lehrplans, die im #waldorflernt Podcast ausführlicher diskutiert wird.

Eine Frage, viele Antworten

Auf die Frage »Warum unterrichten Sie das?« werden Lehrkräfte unterschiedliche Antwort geben: »Weil es im Lehrplan steht.« – »Weil die Schüler:innen das für die Abschlussprüfungen brauchen.« – »Weil mein Unterricht auf der Menschenkunde Rudolf Steiners basiert.« – oder: »So habe ich es in der Ausbildung gelernt.« Alle diese Antworten sind zwar teilweise verständlich, aber doch nicht ausreichend. Schließlich geht es nicht darum, Tradition zu reproduzieren, sondern wir müssen das, was wir unterrichten, auch pädagogisch begründen können. Im Folgenden wollen wir versuchen, die Dimensionen möglicher pädagogischer Begründungen anzudeuten.

Lehrplan und Entwicklungsaufgaben

Das Verhältnis zwischen der Menschenkunde und dem Lehrplan lässt sich wie folgt grafisch darstellen: Die allgemeinen Menschenkunde, die beschreibt wie Kinder und Jugendliche im allgemein lernen und sich entwickeln, wenn wir die Interaktion von Geist, Seele und Leib berücksichtigen, beschreibt eine Reihe von pädagogischen Prinzipien, beispielsweise wie Schüler:innen lernen. Durch die Anwendung dieser Prinzipien, etwa zu den Bedingungen des Lernens, wird dann Praxis entwickelt, in diesem Fall der Epochenunterricht. Ein anderes Beispiel für diese Praxis ist der Lehrplan. Der Lehrplan bietet in Form von Vorschlägen zu Inhalten und Tätigkeiten mögliche Antworten auf Fragen, die durch sogenannte Entwicklungsaufgaben gestellt werden. Jede Phase des Lebens bringt bestimmte Entwicklungsaufgaben mit sich, die bewältigt werden müssen. Einige Aufgaben haben mit unserer ständig sich verändernden Leiblichkeit zu tun. Andere Entwicklungsaufgaben werden von den Erwartungen der Gesellschaft und der Kultur geprägt, in der wir leben, etwa was man bis wann können und wissen muss, um aktiv an der Gesellschaft mitgestalten zu können. Diese Aufgaben verändern sich im Laufe der Zeit im Gleichschritt mit sozio-ökonomischen, politischen und ökologischen Veränderungen. Eine dritte Quelle der Entwicklungsaufgaben sind die spezifischen biografischen Intentionen und Bedürfnisse, die wir individuell mitbringen. Die Art und Weise, wie wir mit all diesen Aufgaben umgehen, nennen wir Lernen. Die Funktion des Lehrplans ist es, strukturierte Lernangebote zu beschreiben, in denen Schüler:innen sich mit ihren Entwicklungsaufgaben auseinandersetzen können. 

Grafisch sieht das so aus:

Neu entstehende Entwicklungsaufgaben erfordern immer wieder andere Lernmöglichkeiten und so müssen die Inhalte und Aktivitäten im Lehrplan kontinuierlich angepasst werden. Die Entscheidung darüber, was wann und wie unterrichtet werden muss und was weggelassen werden kann, sollte auf Kriterien beruhen, die Bildung und Entwicklung als Ganzes berücksichtigen. Das erfordert unter anderem ein Bewusstsein auch für fächerübergreifende Möglichkeiten. Im Lehrplan sollte nicht die Wissensvermittlung im Vordergrund stehen, denn heute kommt es vor allem auf die Fähigkeiten an, die für den Umgang mit Wissen erforderlich sind. Junge Menschen sollen lernen, durch beobachten und erforschen selbst Wissen zu generieren und dann sinnvoll anzuwenden. Wir müssen also dafür sorgen, dass die gesamte Bandbreite der Potenziale, die jeder Mensch hat, gefördert wird und dabei gewinnen Dispositionen sowie Denk- und Handlungsgewohnheiten immer größere Bedeutung. Zu den wichtigsten Dispositionen gehören Resilienz und Gesundheit, der Umgang mit Komplexität und mit Konflikt, die Befähigung zur Zusammenarbeit mit anderen zur Lösung komplexer Probleme, Mehrsprachigkeit und narrative Empathie (die Fähigkeit, sich einem anderen so weit zu öffnen, dass man seine Geschichte erzählen kann) und das Urteilsvermögen. Ein Bereich des Lehrplans ist das, was im Englischen »Orality« und »Literacy« genannt wird. Oralität umfasst das gesprochene Wort (in allen Sprachen), den Gesang, das Erzählen, die Poesie, den Mythos und das Theater. Oralität ist das performative Medium schlechthin.  Sie gibt dem Menschen eine ureigene Stimme und ist die intimste und unmittelbarste Form der Sprache. Der Sprachforscher Barry Sanders spricht von der Oralität als der Hand im Handschuh der Literacy. Literacy ist mehr als bloß Lesen und Schreiben. Es umfasst auch das Verstehen, den Umgang mit und das Produzieren von allen Medien wie Texten (einschließlich der Literatur), Bildern und Symbolen, die wir »lesen« können. Lesen bedeutet, die Idee hinter der Form verstehen, deuten und erörtern zu können. Literacy ist der Umgang mit Information und unterschiedlichen Informationsquellen und daher fächerübergreifend. Wer Literacy beherrscht, gilt als »literate«, und heutzutage müssen wir in vielen Bereichen literate sein, in der Öko­logie, in den Medien, in der Geschichte und Politik. Literate sein bedeutet mündig sein. Um all diese Gesichtspunkte hinreichend zu berücksichtigen, brauchen wir einen Lehrplan, der sich nicht so sehr auf den Inhalt einzelner Fächer konzentriert, sondern vor allem wichtige Fähigkeiten identifiziert und dann fächerübergreifend Lernsituationen beschreibt, in denen diese Fähigkeiten entwickelt werden können.

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