Am Abend des 8. April 1924 hielt Rudolf Steiner den ersten Vortrag der Reihe Die Methodik des Lehrens und die Lebensbedingungen des Erziehens vor 1.700 Zuhörern im Gustav Siegle Haus. 19-jährig nahm Ernst Weißert (1905–1981) an dieser Tagung teil und entschied sich daraufhin für den Lehrerberuf.
Einer der Kreise, in denen Waldorfpädagogik damals intensiv erarbeitet wurde, war der 1921 durch eine Gruppe junger Studenten entstandene Tübinger Pädagogische Arbeitskreis. Als dieser Anfang Oktober 1924 nach Jena-Zwätzen übersiedelte, schloss sich ihm Ernst Weißert an.
Weißert unterrichtete von 1930 bis 1938 an der Rudolf Steiner Schule in Berlin. Schon in dieser Zeit begann er, an überregionalen Aufgaben mitzuwirken. Er reiste im Herbst 1932 zur ersten internationalen pädagogischen Tagung nach Dornach und wurde zu Verhandlungen über wichtige Fragen der Waldorfschulen hinzugezogen. So war er auch beim legendären »Sofagespräch« am 10. Mai 1933 in der Wohnung der Berliner Kollegin Anni Heuser dabei, wo beschlossen wurde, einen Reichsverband der Waldorfschulen zu gründen, der schon im Juni desselben Jahres in »Bund der Waldorfschulen« umbenannt wurde, weil sich der Reichsverband für Privatschulen weigerte, einen anderen Reichsverband als Mitglied aufzunehmen.
Im Februar 1934 zog die Schule mit ihren mittlerweile 367 Schülern in ein größeres Gebäude in der Berliner Straße (heute: Otto-Suhr-Allee in Charlottenburg). Ab Ostern 1936 durfte sie keine neue 1. Klasse mehr aufnehmen. Weißert und seine Kollegen stellten immer lautere Fragen an die politische Strategie der verhandelnden Kollegen aus dem Bund und gingen eigene Wege, denn sie glaubten nicht an das Wohlwollen des Nazi-Apparates. Sie begannen, sich von den Versuchen zu distanzieren, doch noch Mittel und Wege zu finden, um eine Weiterexistenz der Waldorfschulen zu erreichen. Das Kollegium entschloss sich, die Schule in die Umschulung zu führen, als im Sommer 1937 auch für Lehrer an Privatschulen die Vereidigung auf den Führer angeordnet und ein schriftliches Treuegelöbnis zu Adolf Hitler verlangt wurde, und freiwillig zu schließen.
Während des folgenden Jahres unterrichtete Weißert im Umschulungskurs und in einem Restkurs mit vielen jüdischen Kindern, deren Eltern emigrieren wollten. Mit einigen Kollegen gab er noch bis 1941 Privatunterricht für Attestkinder, d.h. für Kinder, denen ein Attest bestätigte, dass sie sich nur mit bis zu fünf anderen Kindern in einem Klassenzimmer aufhalten konnten. Als dieser Unterricht von der Gestapo verboten wurde, wurde Weißert, genauso wie Lotte Ahr (1904-1981) und Erich Weismann (1905-1984), wegen »Fortführung einer verbotenen Pädagogik« für einige Monate verhaftet.
Nach dem Krieg arbeiteten einige Berliner Kollegen an der Stuttgarter Waldorfschule. Dort wurde Weißert 1946 offiziell in den Verwaltungsrat kooptiert, und man munkelte, dass jetzt der Oppositionsführer ins Kabinett berufen worden sei. In der Folge entstand eine enge Arbeitsbeziehung zu Erich Schwebsch (1889-1953), die ein bedeutendes Fundament für die Entwicklung der deutschen Waldorfschulbewegung in den nächsten Jahrzehnten legte.
Weißert war und blieb es von größter Wichtigkeit, dass Kinder von Akademikern und Industriearbeitern in einer einheitlichen differenzierten zwölfjährigen Gesamtschule gemeinsam erzogen werden und so äußerte er sich manches Mal despektierlich über »unsere Waldorfgymnasien«.
Nach 33 Jahren Waldorfpädagogik luden die Kollegen der Stuttgarter Waldorfschule zum Jahreswechsel 1952/53 400 Kollegen aus der ganzen Welt zu einer internen Tagung nach Stuttgart ein. Sie blickten auf den Beginn der Waldorfbewegung zurück und fragten sich, wie sie mit den Herausforderungen einer wachsenden Bewegung zurechtkommen würden. Aus Sorge vor einer möglichen Verflachung des Impulses »war darum das Verhältnis des einzelnen Lehrers zum spirituellen Ur-Impuls, zur Anthroposophie, die Zentralfrage«. Schwebsch und Weißert wollten einen Verdichtungskeim pflanzen und eine Kraftkonzentration für die Waldorfbewegung einer nächsten Generation erreichen.
Von nun an übernahm Weißert neben seinem Unterricht (Latein und Kunstgeschichte) die leitenden Aufgaben im Bund der Freien Waldorfschulen. Er gab diesem für die nächsten 33 Jahre das Gepräge. Erst nach einer Erkrankung 1969 beendete er seine Lehrertätigkeit und konzentrierte sich auf die Aufgaben im Bund.
Weißert war ein Meister im Abspüren untergründig wirksamer Tendenzen, die nur noch nicht an die Oberfläche gelangt waren. Nahm er solche Tendenzen wahr, dann gestaltete er daraus Initiativen.
Er teilte mit vielen seiner Kollegen den Eindruck, dass sich in den frühen 1960er Jahren immer mehr Lernformen und Lerninhalte in die mitteleuropäische Welt hereindrängten, die die Individualität ignorierten. Deshalb wollte er eine starke mit der Waldorfpädagogik verbundene Elternbewegung aufbauen, um die Waldorfpädagogik vor zu vielen Eingriffen von außen zu schützen. Er initiierte 1963 eine Tagung in Berlin mit dem Titel Eltern und Lehrer im Bund für eine neue Erziehungskunst. Von nun an fanden die Tagungen in jährlicher Folge immer in einer anderen Schule statt.
Weißert war davon überzeugt, dass die Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte, wie Früheinschulung, Kampf um die frühe Kindheit, Politisierung der Oberstufe, Veränderung der Schulstrukturen in Deutschland, nur durch ein lebendiges Arbeits- und Vertrauensverhältnis zwischen Lehrern und Eltern gemeistert werden konnten. Diese Eltern-Lehrer-Tagungen wurden in den 1970er Jahren lebhaft besucht, von der 9. Tagung zu Pfingsten 1971 in Bochum an auch von immer mehr Schülern. An der 10. Tagung 1972 in Kassel nahmen immerhin 860 Menschen teil, in den folgenden Jahren noch mehr (etwa 1.000 auf dem Engelberg 1973 und 1.100 in Heidenheim 1975). Aus diesen Tagungen entwickelte sich der am 8. Januar 1972 gegründete Elternrat beim Bund der Freien Waldorfschulen.
Im 50. Jahr des Bestehens der Waldorfpädagogik, 1969, erfolgte auf Initiative des Bundes, so berichtete es Weißert im Haager Kreis, die Gründung der Waldorfkindergarten-Vereinigung mit 24 beteiligten Kindergärten. Angesichts der weltweit aufgeworfenen Fragen, wie Kindheit gestaltet und für die Entwicklung des Lebenslaufes zum Kräftequell gemacht werden kann, wurde dieser Zusammenschluss international erweitert.
Weißert war es selbstverständlich ein großes Anliegen, die Zusammenarbeit der internationalen Schulbewegung zu fördern. Deshalb lud er erstmals zur Herbsttagung des Bundes 1964 Waldorfvertreter aus aller Welt ein. 1969 kamen 2500 Gäste in die Stuttgarter Liederhalle zum 50-jährigen Jubiläum. In vielen Gesprächen ergab sich eine deutliche Einschätzung der damaligen bildungspolitischen Signatur. Der für eine Waldorfschule unbedingt notwendige Freiheitsraum wurde im bildungspolitischen Kontext besonders der sozialdemokratisch regierten Länder immer mehr beschnitten. Willem Kuiper, der Überbringer der Grüße aus den Niederlanden, berichtete Weißert, inzwischen Vorsitzender des Bundes, von den Anfeindungen in seinem Land. Weißert antwortete Kuiper: »Wir sollten eine Gruppe bilden von ›Sachverständigen‹ aus allen Ländern, die mit dem Staat verhandeln müssen. Wir sollten regelmäßig zusammenkommen und die Sachlage besprechen, am liebsten im Haag.« Damit war der Haager Kreis geboren, jene Zusammenarbeit der internationalen Waldorfschulbewegung, die seit Pfingsten 1970 zweimal im Jahr als Internationale Konferenz der Waldorf/Rudolf Steiner Schulbewegung stattfindet. Weißert war es wichtig, dass nicht abstrakt ein Weltschulverein eingerichtet werde, sozusagen eine leere Form, sondern ein auf gegenseitigem Vertrauen und auf Freundschaft aufgebautes lebenspraktisches Instrument. Er sprach gelegentlich von einem »Weltschulkollegium«, einer spirituellen Gemeinschaft, der alle Waldorflehrer angehören. Angesichts des Mangels an Freiräumen im Schulwesen hielt er es für lebenswichtig, dass die europäischen Waldorfschulen sich zusammenschließen und eine gemeinsame politische Linie finden. Die Lage der Schulbewegungen in den einzelnen Ländern und deren politische Situation wurden mit Blick auf Gesetze und Strukturpläne der öffentlichen Hand analysiert, gleichzeitig die Grundlagen der Waldorfpädagogik im Verhältnis zur Mainstream-Pädagogik betrachtet. Gemeinsam wurde beraten, wie die Eingriffe in die Autonomie durch eine fundierte Zusammenarbeit der europäischen Waldorfschulbewegungen abgewehrt und welche politischen Aktionen sinnvollerweise in Gang gesetzt werden können.
Ende der 1960er Jahre war der von Weißert 1950/51 ausgerufene Gründungsstopp nicht mehr zu halten. Aufbruchsstimmung zog durch das Land und viele junge Eltern suchten nach neuen Erziehungsformen. Die Nachfrage stieg. Stefan Leber (1937–2015) setzte sich vehement für neue Schulgründungen ein und Weißert schloss sich seiner Auffassung an, sodass er alsbald von Einweihung zu Einweihung reiste. Die Zahl der Waldorf-Neugründungen wuchs in den 1970er Jahren stärker als je zuvor – und damit entstand eine neue Integrationsaufgabe für den Bund. Weißert erfand 1972 die später so genannten Gründungswilligen-Treffen, bei denen die neuen Schulinitiativen sich vorstellten und ihre pädagogischen Profile sowie ihre wirtschaftliche, rechtliche und bauliche Situation darstellten. Von diesem Jahr an fanden diese Treffen jeweils im September statt.
Im Frühjahr 1979 versammelten sich Lehrer aus den deutschen und europäischen Waldorfschulen sowie Kollegen aus Australien, Südafrika, Nord- und Südamerika in Stuttgart und feierten gemeinsam ein Geistesfest, wie Ernst Weißert es nannte. Die Besinnung auf den Quell des waldorfpädagogischen Impulses und der Rückblick auf 33 1/3 Jahre der waldorfpädagogischen Bewegung seit der Wiederbegründung 1945 wurden verknüpft mit dem Vorblick auf eine immer globaler werdende Welt, eine neue Geistoffenheit und völlig neue Herausforderungen.
1980 feierte Weißert seinen 75. Geburtstag und wurde mit den Worten geehrt: »Ernst Weißert ist Gestalter und Baumeister der deutschen Waldorfschulbewegung geworden. Lebensformen, die er geschaffen hat, […] haben eine allgemeine Gültigkeit, wo aus Freiheit in der Erziehung für die aufsteigende Menschlichkeitsentwicklung gearbeitet wird.« Im Jahr darauf, am 2. Januar 1981, starb Weißert und mit ihm verlor die Schulbewegung den letzten führenden Menschen, der noch in direktem Kontakt zu Rudolf Steiner gestanden hatte. Mit seinem Tod verschwand ein persönlich-verbindlicher, geistig-konkreter Ton aus der Schulbewegung.
Literatur:
Nana Göbel: Die Waldorfschule und ihre Menschen. Weltweit. Geschichte und Geschichten. 1919 bis 2019 (3 Bände), Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2019