Wesen und Erscheinung
Schaut man als erwachsener Mensch auf ein neugeborenes Kind, weckt der Anblick eine Stimmung der Ehrfurcht und Demut vor dem Wesen hinter der eigentlich hilflosen Erscheinung. Nüchtern betrachtet, kann der Säugling leiblich nämlich noch gar nichts. Er kann nichts verdauen, er kann seine Körpertemperatur nicht halten, er kann sich nicht aussprechen und er kann sich nicht fortbewegen. Alle Bewegungen sind unwillkürlich oder folgen angeborenen Reflexen. Das Saugen, das Schlucken, das Greifen, die Bewegungen beim Atmen und vieles andere, wie zum Beispiel der Schreitreflex oder gewisse Bewegungsabläufe bei bestimmten äußeren Reizen sind leibliche Automatismen, die mit menschlicher Autonomie, Freiheit und Selbstbestimmung nicht das Geringste zu tun haben. Trotzdem »sehen« wir durch die Erscheinung des Säuglings hindurch die Individualität, die sich in den kommenden Jahren zu den allgemeinen menschlichen Fähigkeiten und zu ihren persönlichen individuellen Begabungen hin entwickeln wird.
Der aufrechte Gang muss errungen werden
Im ersten Lebensjahr lernt das Kind rasant, sich zu bewegen. In den ersten drei Monaten ist dies vor allem im Kopfbereich wahrzunehmen: Die Augen lernen das Fixieren, und es entsteht das Vermögen, den Kopf allein ohne stützende Hand zu halten. Auch das erste Lächeln fällt in diese Zeit.
Im zweiten Vierteljahr entstehen das Spiel mit den Händen vor dem eigenen Brustkorb in Rückenlage und die unermüdlichen Drehbewegungen. In Bauchlage »hängen« die Beine des Kindes im Wachzustand interessanterweise oft noch in der Luft. Die Hauptaktivität liegt bei Armen, Händen sowie Bauch- und Rückenmuskulatur.
Bis zum neunten/zehnten Monat wird der Körper dann meist bis zu den Knien ergriffen. Das Kind stützt sich mit dem gesamten Oberkörper ab und landet im Vierfüßlerstand. Auch wenn von nun an die zeitliche Entwicklung immer individueller wird, so fallen ans Ende dieser Phase das Sitzen und das Robben.
Nach dem zehnten Lebensmonat entwickeln sich dann das Krabbeln, das Hochziehen, das Stehen und das Gehen. Mit dem freien Schritt in die Welt zwischen dem 12. und dem 18. Lebensmonat ist die erste Etappe des Erwachens an der Welt erreicht, manchmal schon mit neun Monaten, manchmal erst mit 21 Monaten. Dabei kommt dem Menschen in der Umgebung die Aufgabe zu, niemals in die Bewegungsentwicklung einzugreifen, sondern einfach ein aufrecht gehendes Vorbild zu sein. Nur durch selbst errungene Bewegungsabläufe bekommt das Kind einen »sicheren Stand« in der Welt. Andernfalls drohen Haltungsschäden, unsichere Bewegungsabläufe oder nicht überwundene Reflexe, die später zu Verhaltensauffälligkeiten in der Schule werden können.
Sprechen und sich Bewegen befruchten einander
Zeitgleich mit der Bewegungsentwicklung findet im ersten Lebensjahr ein fortwährendes Spiel mit Lautäußerungen statt. Kann das Kind anfänglich nur schreien, fängt es mit den Monaten immer mehr an, Lautmalereien zu betreiben und den Sing-Sang der Muttersprache nachzuahmen. Dies ist aber bis ungefähr zum ersten Geburtstag lediglich ein leibliches Bekanntwerden mit den Sprechorganen Kehlkopf, Zunge, Lippen und Gaumen. Das sinnerfüllte Wort, mit dem ein Ding in der Welt dann richtig benannt werden kann, ist ein Hauptcharakteristikum des zweiten Lebensjahres. Hier setzt das Worte-Sprechen ein. Es werden Hunderte von Wörtern gehört, nachgeplappert und an der richtigen Stelle eingesetzt. Auch die Entdeckung, dass nicht alle Männer Papa heißen, und nicht alles Runde ein Ball ist, wird meist kurz vor dem zweiten Geburtstag gemacht. Genauso wie sich das Spektrum der Bewegungen in den nächsten Jahren mit Hüpfen, Springen und Klettern erweitert, differenziert sich in den folgenden Jahren die Sprachentwicklung, bis ein Schulkind schließlich alle Präpositionen, adverbialen Bestimmungen und auch kompliziertere Nebensätze richtig einsetzen kann.
Besonders interessant ist das viel beobachtete Phänomen, dass die Kinder in einer Phase des ausgiebigen Sprechen-Übens in der Bewegungsentwicklung stagnieren oder sogar retardieren und ein paar Wochen später wieder »große Sprünge« in ihrer Bewegungsentwicklung machen, wobei die Sprachentwicklung wiederum »Pause« macht. Es ist, als ob neu errungene Bewegungsabläufe sich in verwandelter Form als Sprachkraft zeigen, und diese Kraft dann mehr fürs Sprechen genutzt wird und weniger für neue Bewegungen.
Auch in dieser zweiten Etappe haben die Menschen in der Umgebung des Kindes die Verantwortung, ordentlich untereinander und zu dem Kind zu sprechen. Jegliches Wörter-Lernen einerseits oder kindische Ansprechen anderseits hemmt den freien und individuellen Spracherwerb.
Mit dem Denken emanzipiert sich das Kind vom Leib
Ist das Sprechen in vollem Gange, setzt unmittelbar etwas ein, was nicht mehr äußerlich beobachtet werden kann, sondern sich im Inneren der kindlichen Seele abspielt. Meist deutlich nach dem zweiten Geburtstag kommt es auf einmal zu beispielsweise folgendem Ausspruch: »Bäcker B'ot backt, Mama B'ot backt, dann is' Mama Bäcker.« Diese gedankliche Verknüpfungsfähigkeit ist gemeint, wenn hier vom Denken-Lernen gesprochen wird. Es ist noch nicht die Fähigkeit von Sechs- bis Siebenjährigen gemeint, die dann schon eigene Vorstellungen entwickeln, Erinnerungsvorstellungen erzeugen können und ihr Gedächtnis ausbilden.
Diese dritte Etappe des Denken-Lernens ist bei näherer Betrachtung bereits die erste Emanzipation von der eigenen Leiblichkeit. Lebte das Kind zuvor ausschließlich im unbewussten Schaffen, so erhebt es sich nun aus seinem Leben in der Bewegung und im Sprechen. Das Erfahrene wird von der kleinen Person konkret angeschaut und gedanklich miteinander verknüpft. Die rasante Vernetzung im Gehirn in den ersten zwei Jahren führt von allein noch nicht zur Möglichkeit der gedanklichen Verknüpfung. Sie bietet lediglich die leibliche Grundlage für diese freie Tätigkeit des Seelisch-Geistigen. Es ist die Person, die denkt, nicht das Gehirn. Daher beginnt das Kind auch zwischen dem zweiten und dritten Geburtstag »Ich« zu sagen und zu trotzen. Vorher benannte sich das Kind mit seinem Namen: »Paul Hunger hat«. Mit etwa zweieinhalb Jahren wird das abgelöst durch ein vehementes »Ich, ich will (nicht)!« Das Ich-Bewusstsein ist erwacht. Dabei sind gütige Gedanken die beste Umgebung für das zwei- bis dreijährige Kind. Auch wenn's beim Trotzen mitunter schwer fallen kann …
Kinder lernen von Vorbildern
Schaut man auf diese drei Etappen des kindlichen Erwachens, wird deutlich, wie sich äußere Bewegung teilweise in eine innere Bewegung verwandelt.
Ist der freie Stand errungen, sieht man den Kindern an, wie sich nun Vieles vermehrt im Inneren bewegt. Die Kinder suchen nach Worten und wir sehen ihnen dabei ihre innere Bewegung an den Augen und an den beim Sprechen oft ruhigeren Gliedmaßen an. Ist das Sprechen dann geübt und können die wichtigsten Dinge der Umgebung benannt werden, dann ist die nächste Bewegung, die sich das Kind hinzu erwirbt, ganz und gar innerlich. Es denkt.
Dieser Dreischritt einer Verwandlung von Bewegung ist sogar noch im Kindergarten und in den ersten Klassen in der Schule erlebbar. Alles Neue wird zunächst leiblich ausprobiert, bewegt und erprobt, dann wird darüber geredet, was man damit machen kann, und oft danach erst wird das Ding in die bisher bekannte Begriffswelt eingeordnet.
Der Mensch hat einen im Vergleich zum Tier mühsamen Entwicklungsweg, auf dem er sich die freie Bewegung, die Sprache und das Denken erst erringen muss. Damit sind ihm aber Möglichkeiten gegeben: Möglichkeiten der Freiheit und der Selbstbestimmung sowie Möglichkeiten, sein Schicksal zu gestalten, Lebensmotive zu entwickeln und die Welt denkend, fühlend und handelnd zu verändern.
Auch wenn man es manchmal nicht glauben mag: Alles, was gelernt wird, sei es das Händewaschen, das Füßeabtrocknen, die Aussprache oder die Art der Gedankenführung, wird in den ersten Jahren über die Nachahmung von Vorbildern, nicht durch Erklärungen gelernt. Alles verleibt sich das Kind über das Mitschwingen mit der Umgebung ein. Wer sich dies klar macht, sieht die ungeheure Verantwortung, die wir als Vorbilder mit jeder einzelnen Geste haben. Achten Sie bei Gelegenheit einmal auf das Gangbild, die Aussprache und die Klarheit in der Gedankenführung bei Kindern und ihren Eltern. Da sieht man manchmal mehr als einem lieb ist.
Prüfen wir uns also, wie und mit welcher Intention wir uns bewegen, wie und was wir sprechen und wie und was wir denken. Davon hängt ab, in welcher Art und Weise das Wesen des Kindes zur Erscheinung kommen kann.
Zum Autor: Philipp Gelitz ist Kindergärtner im Waldorfkindergarten des Bildungshauses Freie Waldorfschule Kassel und Vater einer Tochter.
Literatur: Rudolf Steiner: Die menschliche Seele in ihrem Zusammenhang mit göttlich-geistigen Individualitäten, GA 224, Dornach 1992