Zwölf Jahre Zusammenarbeit mit einer Waldorfklasse

Erziehungskunst | Wie kam es zu der Idee, einen Film über eine Schulklasse zu machen?

Maria Knilli | Das war eine gedankliche Kettenreaktion an einem Wintermorgen 2005. Die Einschulung unserer Tochter rückte in den Blick. Ich hatte die ersten sieben Jahre als Mutter am Theater inszeniert und dachte: Was willst du arbeiten, wenn das Mädchen um 12 Uhr schon wieder zu Hause ist? – Du musst auch in die Schule gehen, dann hast du den gleichen Rhythmus wie sie. – Es gibt keine filmischen Innenansichten von Waldorfschulen! – Warum nicht dokumentarisch drehen, das hast du schließlich studiert.

EK | Sie haben aber nicht in der Klasse Ihrer Tochter gedreht ...

MK | Nein, das wäre keine gute Idee gewesen. Als Schulmutter oder Filmemacherin hat man doch sehr, sehr unterschiedliche Aufgaben und Interessen.

EK | Wie lange hat das Filmprojekt gedauert und was kam dabei heraus?

MK | Tatsächlich arbeite ich seit 2005 an dieser Langzeitdokumentation, elf Filme sind entstanden. Vier Dokumentarfilme, »Guten Morgen, liebe Kinder«, »Eine Brücke in die Welt«, »Auf meinem Weg« und aktuell: »Reden wir von Leben und Tod«. Zusammen mit der Pädagogischen Forschungsstelle entwickelten wir sechs ergänzende Filme für Lehre und Forschung, Filme zu verschiedenen Unterrichtsfächern der Klassen 1 bis 8  – wie z. B. muttersprachlicher Unterricht, Rechnen, Formenzeichnen oder Theaterspielen. Und last but not least eine Webdoku, die demnächst online gehen wird: »Nachgefragt – Rückblicke auf unsere zwölf Jahre Waldorfschule.« Kurze Interviews, in denen die Zwölftklässler ihre Schulzeit konstruktiv kritisch reflektieren.

EK | Wie war es möglich, dass eine Klassenlehrerin, eine ganze Schule, die Eltern und die Schüler zu solch einem Langzeitprojekt bereit waren?

MK | Das Projekt stand von Anfang an unter einem guten Stern. Beim Bayerischen Rundfunk stieß meine Idee, eine Waldorfschulklasse acht Jahre filmisch zu begleiten, Anfang 2005 sofort auf offene Ohren. Ein absoluter Glücksfall! Die Pisa-Studie war damals in aller Munde. Dann stand ich vor der Frage: Welche Schule und insbesondere welcher Klassenlehrer ist bereit, sich auf solch ein Abenteuer einzulassen? Die Landsberger zeigten Interesse. Es bildete sich eine Arbeitsgruppe, und einer der Gründungslehrer, Michael Vilser, hat das Potenzial dieses Projekts sofort gesehen. Für mich ist er die Hebamme dieser Langzeitdokumentation! Trotzdem dauerte es noch zwei Jahre bis Drehbeginn. Den Eltern der betreffenden Klasse wurde das Projekt schon bei den Aufnahmegesprächen für die Kinder vorgestellt. Es gab etliche Informations­elternabende, einzeln und in Gruppen – das zog sich über viele Monate, dadurch wurde das Ganze zu einem großen Gemeinschaftsprojekt.

EK | Wie gelang es, die Filmsituation im Unterricht so natürlich wie möglich zu gestalten?

MK | Ich sah es als meine Verantwortung, dass meine filmische Arbeit sich nicht störend auf die Kinder auswirkte. Ich bin von Beruf eigentlich Autorin und Regisseurin und hatte seit dem Studium nicht mehr selbst gedreht. Aber mir wurde schnell klar, dass ich für dieses Projekt nicht mit einem Dokumentarfilmteam antreten konnte, sondern alle drei Funktionen, Regie, Kamera und Ton, selbst würde übernehmen müssen.

Wenige Tage nach der Einschulung durfte ich bereits für ein paar Tage in der Klasse hospitieren. Ich stellte die Kamera erstmal einfach nur neben mich. Als ich die Kinder in ihrer Zartheit und Offenheit spürte, die wie kleine Schwämme alles aufsaugten, was sich ihnen darbot, wusste ich, dass ich die einzig richtige Entscheidung getroffen hatte. Spielerisch nannte ich die Kamera mit dem Mikrofonaufbau einen hungrigen »Hirschkäfer«, so konnten wir morgens vor dem Unterricht ein bisschen Spaß haben miteinander und uns kennenlernen.

Schon bald gab die Klassenlehrerin, Christiane Umbach, mir Gelegenheit, den Kindern zu erzählen, was ich vorhatte. Ich erklärte ihnen Kamera und Mikrofon genauer, und sie durften – nur dieses einzige Mal in unserer ganzen Zusammenarbeit – selbst durch die Kamera schauen. Ansonsten war die Kamera meine Werkstatt. Für einen guten Originalton trug Christiane Umbach ein kleines Sendermikrofon – das verheimlichten wir den Kindern auch nicht. Später dann, als die Klasse schon etwas weiter war, benutze ich für eine bessere Tonqualität noch ein Mikrofon auf einem Stativ und ein Federmäppchen mit einem weiteren Sendermikrofon, das variabel zum Einsatz kam. Das klingt jetzt nach relativ viel, aber es war wenig genug, um unauffällig arbeiten zu können.

EK | Wie muss man sich das vorstellen? Sind Sie mit der Kamera im Klassenzimmer herumgelaufen, oder saßen Sie nur in einer Ecke und haben beobachtet?

MK | Über all die Jahre las ich meine Arbeitsweise intuitiv von den Kindern ab. Man sieht das in den Filmen! Zu Beginn saß ich hinten wie eine Hospitantin, man sieht nur die ganze Klasse und die Lehrerin, keine Nahaufnahmen. Peu à peu pirschte ich mich über die Seite nach vorne. Bereits im Laufe der ersten Klasse konnte ich ohne Probleme die Heftarbeit oder auch den rhythmischen Teil von verschiedenen Positionen aus drehen. Um wirklich ein Teil der Gruppe zu werden, investierte ich recht viel Zeit und drehte kontinuierlich ungefähr eine Woche pro Monat.

EK | Das heißt, die Schüler kannten Schule gar nicht ohne Kamera?

MK | Zwischendrin gab es natürlich Schule ohne Kamera, aber für die Klasse war das Drehen ganz normal. Ich arbeitete im Grunde wie eine »teilnehmende Beobachterin«. Sechs- bis siebenjährige Kinder brauchen häufig Hilfe von Erwachsenen. Obwohl ich meistens am Drehen war, wurde ich als zweite erwachsene Person im Klassenzimmer immer wieder angesprochen: »Wie schreibt man Bus?«, «Kannst du mir mal den Anorak zumachen?« Natürlich half ich meinem Gegenüber, stellte auch die Kamera weg dafür. Die meiste Zeit aber kommunizierten wir nonverbal, durch Blicke und Körpersprache.

Die Schüler erlebten mich als jemand, die hundertprozentig Zeit für sie hatte und sich hundertprozentig für sie interessierte. Daraus wuchs eine ganz besondere Art von Nähe, obwohl ich mit manchen Schülern in all den Jahren nicht viele Worte wechselte.

Ein lustiger Moment ist mir im Gedächtnis geblieben, das war vielleicht in der 4. Klasse, da bedeutete mir ein Schüler stumm im Unterricht, ich möge seine Zettelpost in die vordere Reihe bringen. Ich dachte schmunzelnd: Das ist der »Ritterschlag«! Den Zettel beförderte ich natürlich trotzdem nicht ...

Als Christiane Umbach nach acht Jahren eine neue erste Klasse übernahm, meinte sie: »Das fühlt sich richtig komisch an, dass du nicht da bist.« Ich glaube, das bezog sich auch darauf, dass sie mit mir über alle Schüler sprechen konnte, weil ich sie ja auch genau kannte und berichten konnte, was ich im Unterricht erlebt oder beobachtet hatte. Das war immer sehr interessant.

Im Großen und Ganzen war ich immer bemüht, möglichst unsichtbar zu sein. Eine Münchner Feuilletonistin, Christiane Pfau, schrieb einmal, ich sei der »Blumentopf am Fensterbrett« gewesen.

EK | Gab es Situationen, in denen Sie um das Projekt kämpfen mussten?

MK | Es gab Zeiten, in denen es mir schwer fiel, zum Drehen zu gehen. Das waren immer die Wochen, wo ich merkte, dass die Klassenlehrerin insgesamt hohen Belastungen ausgesetzt war, aus schulischen oder auch aus privaten Gründen. Mir war klar, dass ich eine zusätz­liche – nennen wir es mal freundlich − »Herausforderung« darstellte.

Es gab auch Phasen, in denen es in der Klasse Probleme mit der Disziplin gab, zum Beispiel im Fachunterricht. Da kam dann schnell die Einschätzung auf, es könne am Filmprojekt liegen. Das musste ich früh wahrnehmen und dann mit den Betreffenden in Dialog treten. Zwar hatten sich alle Lehrer zur Mitarbeit bereit erklärt, trotzdem war das Projekt riskant, ich musste mich permanent bewähren.

EK | Wie wurde Ihre Arbeit von den Eltern begleitet?

MK | Von Anfang an begleitete eine Arbeitsgruppe mit einer Elterndelegation das Projekt. Wir trafen uns vierteljährlich, um Rückmeldungen in Hinblick auf das Drehen auszutauschen. Das bewährte sich, denn es gab auch Sorgen oder Fragen, wenn Kinder oder Familien durch schwierige Phasen gingen. Dem Arbeitskreis zeigte ich auch immer die Rohfassungen der Filme. Das Feedback, das ich dort bekam, ließ ich in meine Arbeit einfließen. Das ging so über die ganzen zwölf Jahre. Lehrer waren in den letzten Jahren nicht mehr dabei, aber die Kerngruppe aus der Elternschaft. Bevor die Filme in die Endfertigung gingen, zeigte ich sie immer allen Eltern in Landsberg im Kino. Das war die Endabnahme.

Mit den Schülern schauten wir die Filme im Herbst im Klassenzimmer an, bevor sie gesendet wurden. Und wir sprachen gemeinsam darüber. Es war fast so, wie im Familienalbum zu blättern. Die Schüler beobachteten ganz genau, wer sich wie verändert hatte.

EK | Es ist ja ein sehr intimer Blick in die Werkstatt eines Lehrers ...

MK | Absolut. Für das Vertrauen, das die Lehrer, Eltern und Schüler mir entgegengebracht haben, bin ich sehr dankbar. Es ist ein Geschenk, dass man so lange in ein Klassenzimmer schauen darf.

Mindestens die Hälfte der Arbeit bestand eigentlich aus der Kommunikation im Hintergrund, das war die soziale Seite des Projekts. Die Krönung dieses gemeinschaftlichen Aspektes war für mich, als ich nach vier Jahren Drehpause in die dann 12. Klasse ging und fragte: »Wollen wir Gespräche führen darüber, wie ihr heute über das Leben und die Welt denkt?« und wieder alle zustimmten.

Eine Frage, die mich nämlich von Anfang an beschäftigt hatte, war, wann und wie würde ich die Schüler aktiver in meine Arbeit einbeziehen können? Erstmals in der 8. Klasse fühlte es sich so weit an, ich interviewte jeden Schüler zu seiner Achtklassarbeit. Eine ganz neue Ebene, ein aktives Gespräch vor der Kamera! Der nächste Schritt war eine Arbeitsgruppe von Schülern, die mit mir zusammen einen kleinen Fragenkatalog zur Klassenlehrerzeit entwickelte, die Interviews führten die Schüler dann erstmals selbst. Im Film »Auf meinem Weg« kann man erleben, wie gelassen und reflektiert die Achtklässler sich vor der Kamera äußern. Das ist sehr berührend.

In den Jahren nach der Klassenlehrerzeit hielt ich den Kontakt zur Klasse, war bei vielen ihrer Veranstaltungen. Zunächst besprach ich die neue Idee, am Ende der Waldorfschulzeit Interviews zu den großen Fragen des Lebens zu führen, mit dem Kollegium. In der 12. Klasse wurde die Sache dann konkret: 18 von 27 Schülern meldeten sich für die aktive inhaltliche Mitarbeit am neuen Projekt. Beglückend, dass am Ende einer solch langen Zusammenarbeit so viele Lust hatten, mitzumachen! Die jungen Erwachsenen entwickelten selbst die Themen für den Film und gestalteten die Gespräche vor der Kamera. Sie befragten auch acht ehemalige Schüler via Skype.

Dieser vierte Dokumentarfilm, »Reden wir von Leben und Tod – Zwölftklässler einer Waldorfschule im Gespräch«, ist nicht mit dem BR entstanden, die Pädagogische Forschungsstelle hat sich dafür stark gemacht und für die Finanzierung gesorgt. Dafür bin ich sehr dankbar.

Wir haben in Italien gedreht, während der Steinmetz-Fahrt. Es war großartig, zu erleben, wie die Schüler das absolut zu ihrer eigenen Sache machten. Jeder war pünktlich zum Interview da, war vorbereitet und ernsthaft dabei. Es war ein Projekt, das sie genauso wollten wie ich. Unvergesslich der Tag dann, als die Schüler-Projektgruppe bei mir in München in meinem Arbeitszimmer vor dem Schnittplatz saß und wir zusammen mit der Editorin Nina Ergang den Rohschnitt des Films guckten und besprachen. Das hätte ich zwölf Jahre vorher nicht zu denken gewagt!

EK | Was bedeutet für Sie das Projekt im Rückblick?

MK | Dieses Langzeit-Gemeinschaftsprojekt ist und war in meinem filmischen Schaffen eine Ausnahmeerfahrung – lehrreich und erfüllend.

Die Fragen stellte Walter Riethmüller.

Hinweis und Links:

Maria Knillis Dokumentarfilme waren im Fernsehen zu sehen und sind in einer DVD-Edition veröffentlicht worden. Der Film: Reden wir von Leben und Tod – Zwölftklässler einer Waldorfschule im Gespräch ist ab sofort auf DVD erhältlich. www.guten-morgen-liebe-kinder.de; Filme für Lehre und Forschung: www.forschung-waldorf.de/publikationen/streaming-portal/