173 Jahre und zwei Weltkriege später entstand die Präambel für unser noch heute geltendes Grundgesetz: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« Es lohnt sich, diese beiden Sätze hin und wieder zu meditieren, und dies nicht nur, damit wir den USA nicht auch demnächst beim Wählen nacheifern.
Vor einiger Zeit traf ich eine Mutter, die mit ihrem achtjährigen Sohn nach Los Angeles auswandern wollte, aber schon drei Monate später wieder in Deutschland war. Der Hauptgrund: jedes Mal, wenn ihr Sohn zum Spielen in den gegenüber liegenden Park ging, wurde er nach kürzester Zeit von Nachbarn oder Passanten zurückgebracht, die es völlig unverantwortlich fanden, dass sie ihr Kind einer solchen Gefahr aussetzte. In Washington wurde kürzlich vor Gericht geklärt, ob einem Elternpaar das Sorgerecht entzogen werden müsse, weil es seine sechs- und achtjährigen Kinder unbeaufsichtigt vor ihrem Haus hatte spielen lassen. Vor einem Jahr wurde der 14-jährige, syrisch-stämmige Texaner Ahmed Mohamed in Handschellen von der Polizei abgeführt, weil seine Lehrerin in dem selbstgebauten Wecker, den er ihr stolz gezeigt hatte, eine Bombe vermutete und die Polizei alarmierte. Und in kalifornischen Parks werden von allen Bäumen die unteren Äste abgesägt, damit die Kinder nicht hinaufklettern und wieder herunterfallen können. Wer die Schadenersatzklagen der USA kennt, mag das sogar verstehen, nur: Was passiert eigentlich mit unseren Kindern, wenn ihnen nichts mehr passieren darf? Wo bleibt die unantastbare Würde des Menschen, wenn Angst das Leben dominiert?
Falls Sie sich jetzt ärgern, dass ich lauter Beispiele aus den USA wähle, haben Sie ganz recht: So schätzt etwa der Freiburger Psychotherapeut Martin Klett, dass 15 bis 20 Prozent der deutschen Eltern zu extremer Überbehütung neigen, Tendenz steigend und mit der Folge, dass die Kinder massiv daran gehindert werden, Selbstständigkeit und Selbstvertrauen zu entwickeln. In Verbindung mit dem ebenfalls zu beobachtenden Trend, den gesamten Tageslauf mit Hausaufgaben, Nachhilfe, Instrumentalunterricht, Ballett, Sport und anderen pädagogisch wertvollen Angeboten durchzuorganisieren, bleibt am Ende eine Kindheit übrig, in der alles Platz hat außer der Kindheit selbst, also der Freiheit, eigene Erfahrungen zu machen, sich zu langweilen, Risiken einzugehen, nasse Füße zu bekommen, vom Baum zu fallen und zu lernen, wie man unbeaufsichtigt mit anderen Kindern klarkommt. Das »unveräußerliche Recht« auf Freiheit ist zugleich das Recht auf Risiko und Irrtum. Ohne sie ist die Unantastbarkeit der Würde des Menschen nicht zu haben – und die Demokratie ebensowenig.
Henning Kullak-Ublick, von 1984 – 2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen, den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners und der Internationalen Konferenz der Waldorfpädagogischen Bewegung – Haager Kreis