Sarah sitzt auf ihrem Platz und zeichnet eine Form. Immer wieder führt sie ihren Stift über die Linien, bis ihre Hände das so gut können, dass sie in ihren Rhythmus hineinträumt und dabei, ohne es zu merken, laut den Namen ihres Klassenlehrers vor sich hinsingt. Die anderen Kinder kümmern sich nicht darum – Sarah halt ... Fünf Jahre später untersucht die Klasse in der Physikepoche Wärmephänomene. Sarah ist krank und bekommt die Aufgabe, eine Kerzenflamme zu beschreiben. Als sie ihre Beobachtungen ein paar Tage später vorliest, breitet sich ehrfürchtiges Staunen aus: Mehr als zehn Minuten braucht sie, um vorzulesen, was sie alles gesehen hat. Sarah hatte Zeit, und Sarah ließ sich Zeit, viel Zeit.
»Schnell weg da, weg da, weg – Mach’ Platz, sonst gibt’s noch Streit – wir sind spät dran und haben keine Zeit«, sang Hermann van Veen 1977, als wir, von heute aus betrachtet, noch ziemlich viel davon hatten. »Die Zeit ist selbst ein Element«, schrieb Johann Wolfgang von Goethe, aber das ist uns als Teil unserer Kultur erst einmal verloren gegangen. Zeit wird heute in zusammenhanglosen Splittern erlebt, die von außen mit Input gefüllt werden müssen, weil das Lauschen auf das Unerwartete, das vielleicht gar nicht kommt, eines gesteigerten Augenblicks bedarf, der das Warten erträgt und sich nicht eben mal googeln lässt. Immer öfter, wenn ich das Wort »Schulqualität« höre, denke ich an die gelebte Zeit, die wir den Kindern geben, um auf eigene Faust Entdeckungen zu machen, mit allen Sinnen die jahreszeitlichen Verwandlungen in der Natur, den Rhythmus in der Musik, in der Familie, in einem Tageslauf, der nicht bis zur letzten Minute »pädagogisch wertvoll« durchgetaktet ist, als Resonanzboden für ihre Lebenssicherheit zu erfahren.
Eine der wichtigsten Aufgaben für die Schule ist heute und wird es in Zukunft immer mehr sein, dass sie die Zeit zu einer qualitativen Erfahrung macht. Nur so kann sich eine Intelligenz bilden, die nicht nur reproduzieren, sondern in Metamorphosen denken kann. Je mehr unsere Zivilisation elektronisch gesteuert wird, um so wichtiger wird es schon für Kinder, genau zu beobachten, Zusammenhänge zu erfahren und ihre Phantasie zu gebrauchen.
Der Epochenunterricht ist dafür ein Instrument, wie auch ein Lehrplan, in dem die Inhalte nicht nebeneinander, sondern in Beziehung entwickelt werden. Wenn Sarah im Lauf des dritten Schuljahres pflügt, eggt, sät, erntet, drischt, mahlt und schließlich bäckt, taucht sie in Prozesse ein, die ihr später helfen, ökonomische, biologische, geografische und soziale Zusammenhänge zu durchschauen. Wenn sie mit acht Jahren Spiegelungen am Kreis zeichnet, denen sie mit siebzehn bei der Projektiven Geometrie wiederbegegnet, hellt sich im Denken auf, was sie vorher willentlich geübt hat. Intelligenz lebt nicht in Splittern, sondern in Zusammenhängen.
Wenn das zum Maßstab für Schulqualität wird, sind wir in einer neuen Zeit angekommen.
Henning Kullak-Ublick, von 1984 – 2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen, den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners und der Internationalen Konferenz der Waldorfpädagogischen Bewegung – Haager Kreis.