»Von den vierundzwanzig Jahren, die ich mit Jugendlichen der Oberstufe gearbeitet habe, waren die letzten zehn die reichsten«, sagt Eduardo Jenaro, Eurythmielehrer an der Freien Waldorfschule Kräherwald in Stuttgart. Es seien diejenigen, in denen es ihm gelang, der Eurythmie für Jugendliche ein zeitgenössisches Gesicht zu geben und eine eurythmische Körpersprache zu finden, die von den Jugendlichen angenommen wird, weil sie sie als zu ihrer Zeit gehörig empfinden.
Ich will nicht sagen, dass mein Eurythmieunterricht in den ersten fünfzehn Jahren nicht sinnvoll war. Aber eines kann ich mit Sicherheit sagen: Er war nicht »Gegenwart«. Er schöpfte nicht aus dem »Jetzt«, er hing zu oft an Althergebrachtem, an der typischen Eurythmie-Kleidungs-Ästhetik und an altbekannten eurythmischen Bewegungsmustern. Dem Unterricht fehlte der künstlerisch-pädagogische Mut. Denn die Eurythmie heute kann nicht dieselbe sein wie die von gestern. Für die Pädagogik kann man behaupten: Wenn du heute unterrichtest, wie du vor zwanzig Jahren unterrichtet hast, dann verhinderst du Entwicklung, weil du dich selbst nicht entwickelst. Deshalb kann Eurythmie von heute nicht dieselbe sein wie die von gestern. Allerdings: Ob Franz Schuberts »Winterreise« oder Pink Floyds »Dark side of the moon«, Igor Strawinskys »Geschichte vom Soldaten« oder Thomas Ds (Fanta 4) »Lektionen in Demut«, Paolo Coelhos »Handbuch des Kriegers des Lichtes« oder Rainer Maria Rilkes »Duineser Elegien« – bei der Entwicklung der »Jugendeurythmie« war es gleichgültig, ob die Themen alt oder modern waren.
Bürgerliche Eurythmie ist nichts für Jugendliche
Es gibt eine Eurythmie, die für Altersheimbewohner geeignet ist, eine Eurythmie für Kindergartenkinder und eben auch eine für Jugendliche. Die Jugendeurythmie braucht eine Dynamik, eine Expressivität, eine Einseitigkeit, eine Verrücktheit und eine Konventionsferne, die eine Unterstufeneurythmie – zum Wohle der Kinder – nicht haben darf. Jugendliche werden krank, wenn sie eine Eurythmie voll bürgerlichem Harmoniebedürfnis machen müssen, die nicht ihrer Entwicklungsstufe des Aufbruchs entspricht. Dieses »Krankwerden« drückt sich im Extremfall als Hass aus.
Eine Eurythmie für die Jugend ist erst dann sinnvoll, wenn die allgemeinen Bewegungselemente der Eurythmie im künstlerischen Sinne »zerschlagen« werden, um eine Neuschöpfung, einen noch nie dagewesenen Ausdruck hervorzubringen. Alle braven Bewegungen der Buchstaben und Tonleitern, die naive Aufrechte des Körpers, die statische Symmetrie der Links-Rechts-Achse, das bedächtige Dahinlaufen, die unaufgeregte Weichheit der Arme und Hände müssen einer neuen Expressivität weichen: Kein Buchstabe soll als solcher »erkannt«, er soll zur puren Andeutung reduziert werden; das Fallen und Wiederaufstehen wird zum Programm, es gilt, sich die Aufrechte künstlerisch zu erringen. Körperschräge, Asymmetrie, extreme Muskelspannung und -lösung, abrupte Tempowechsel sind selbstverständliche Elemente einer jugendeurythmischen Körpersprache.
Bei den Proben der Jugendeurythmie-Projekte lehnten die Jugendlichen Bewegungsvorschläge von mir immer wieder freundlich ab, mit der Begründung, sie seien zu langweilig. Die Jugendlichen wollen in die Suche nach dem Ausdruck einbezogen werden. Nicht, dass sie alleine nach Ausdruck suchen sollten. Das finde ich nicht besonders förderlich. Hand in Hand mit ihrem Choreographen, als Teil des künstlerisch-eurythmisch-kreativen Prozesses, geht es am fruchtbarsten, sowohl für den Lehrling als auch für den Meister. Solistische Arbeit ist von unendlicher Wichtigkeit.
Existenzielle Erlebnisse ermöglichen
Klassen, die mit dem Eurythmieunterricht wenig anfangen konnten, waren immer voller Fragen nach dem Sinn der Eurythmie. Klassen, die freudig und begeistert vielerlei Erlebnisse im Unterricht hatten, fragten so gut wie nie nach dessen Sinn. Sobald eine Klasse dich als Fachlehrer nach dem Sinn deines Faches fragt, kannst du davon ausgehen, dass du deine Schüler nicht erreichst. Als Schüler fragt man nicht nach dem Sinn, wenn man vom Unterrichtsgeschehen erfüllt ist. Jugendliche, die gerne zum Malunterricht gehen, die zwei Stunden und länger in gelassener Konzentration zeichnen und malen, werden gewiss nicht den Sinn des Malunterrichtes hinterfragen. Jugendliche, die sich körperlich-seelisch innerhalb einer Jugendeurythmiestunde ausleben können, wo Lachen und Ernst sich die Hände reichen, wo sie erleben, dass für den Lehrer die Schüler ebenso wichtig sind wie das Fach, kommen nicht auf die Idee, die Eurythmie in Frage zu stellen.
Damit ist der »Sinn« eines jeglichen Unterrichts ausgesprochen: Erlebnisse zu ermöglichen, tiefgreifende menschliche Erlebnisse. Sie können mathematischer, fremdsprachlicher oder eben auch körpersprachlicher Natur sein.
Körperausdruck und der Friede mit sich selbst
In einem gelungenen Plastizierunterricht herrscht kreative Stille. Die Schüler werden nach dem Unterricht nicht voller Enthusiasmus und Tatendrang sein. Es ist eine Innigkeit im Raum anwesend, die den von außen in die Klasse
Kommenden die eigene innere Unruhe spüren lässt. Aus diesem Unterricht kommen konzentrierte, besonnene und ruhige Menschen heraus. Bei einer gelungenen Schauspielprobe gibt es immer Leben in der Bude. Dort durchweht die Stimmung der Begeisterung, des Witzes und des Spieltriebes den Raum. Aus der gelungenen Schauspielprobe kommen beschwingte, enthusiastische Menschen heraus. Malen und Plastizieren stehen innerhalb des Kunstfächerkanons für die Förderung von Innerlichkeit, Ehrfurcht, Respekt und Sensibilität. Schauspiel, Musik und Eurythmie stehen für die Förderung von Begeisterung, Mut, Freude und Zuversicht. Andächtige Eurythmiestunden und witzsprühende Malstunden wirken wider die Natur des Faches. Die Eurythmie hat – menschenkundlich gesehen – ihren Platz innerhalb der Kunstfächer auf der Begeisterungsseite der Erziehungskunst.
Wenn man Acht- oder Zwölfklässler nach ihrem – erfolgreichen – Klassenspiel beobachtet, dann sieht man, wie selbstbewusst und persönlichkeitszentriert sie geworden sind. Ein Hauch von Übermut umweht sie. Einige Wochen lang werden sie wachsamer und einfallsreicher als sonst sein. Nach einer Jugendeurythmieaufführung habe ich diese körperliche und persönliche Zentriertheit, dieses Feurigwerden der Seele, nicht in dem Maß beobachten können. Ich habe bei den Jugendlichen etwas wahrgenommen wie eine warme Erweiterung und Reinigung der Seele. Ein Erfülltsein, Friedlichsein, voller Zuversichtsein aus einer Stimmung des Friedens mit sich selbst. Die Schüler erschienen nicht unbedingt zentrierter, sie erschienen aber größer.
Während der Schauspieler Seele verkörpert, gibt sich der Tänzer durch seinen Körper seiner Umgebung hin, seine Seele wächst über den Körper hinaus. –
In der Erziehungskunst geben sich Schauspiel und eurythmischer Tanz die Hände: Schauspiel fördert die Persönlichkeitsbildung, die Eurythmie fördert die Bildung des idealischen Menschen – all dies unter der Voraussetzung der Freude am Ausdruck.
Spirituelle Gratwanderung
Es gibt in und um den Leib fortwährende Bewegungsströmungen geistiger Natur. Immer mehr Menschen nehmen sie wahr. Es sind dies hauptsächlich die Bewegungen des Lebensprinzips unserer Konstitution – in der Menschenkunde spricht man auch von Ätherleib. Sie sind ungeheuer vielfältig. Da gibt es Bewegungen der Umhüllung, radiale Bewegungen (zum Beispiel vom Herzen aus), rollende Bewegungen, verdichtende Bewegungen, flüssige und auch kantige Bewegungen. Es handelt sich um Kraftfelder, die Druck und Zug auf den Körper ausüben. Sie durchziehen den ganzen Körper und bilden eine bewegliche Hülle um ihn. Ein Teil dieser übersinnlich beweglichen Hülle wird fortwährend vom Menschen selbst geformt: Jeder Gedanke und jedes Gefühl hinterlässt in diesem geistigen Leib einen Abdruck. Bei entsprechender Schulung ist es möglich, eine Sensitivität für diese Vorgänge auszubilden.
Die ganze Eurythmie ruht auf genau diesen, uns meist unbewussten Bewegungsvorgängen unseres unsichtbaren Leibes. Sie kommen auch in den Bewegungen der Buchstaben und der Intervalle zum Ausdruck. Die Eurythmie schließt an diese Bewegungen an. Dabei hat sie bisher nur einen kleinen Teil davon erschlossen. Dieser Umstand macht sie entwicklungsfähig. Derjenige, der sich eurythmisch bewegt, nimmt Teil an dieser spirituellen Ebene des Seins.
Diese im Prinzip positive Lebenstatsache hat auch ihre Kehrseite. Wenn schlechte, widerstrebende Gefühle diese Bewegungen begleiten, wenn die Bewegungen als sinnentleert erlebt werden, dann sind wir dabei, unbewusste Abneigung gegen das Geistige zu schüren. Erziehungskunst ist Verantwortung.
Evolution und Erneuerung der Eurythmie
Evolution, als Hauptgesetz der Welt, verstehen wir in ihrer geistigen Dimension, wenn wir zwischen Wesen und Erscheinung (Leib) unterscheiden lernen. Der Leib ist die zeit- und raumbedingte Struktur, in der ein Wesen wirken kann. Das Wesen der Kunst zum Beispiel nimmt im Lauf der Evolution verschiedene Leiber und Strukturen an, die mit solchen Namen wie »Impressionismus«, »Renaissance« oder »Antike« belegt werden. Das Wesen der Erziehung hat heute verschiedene Leiber und Strukturen: Wir nennen sie »Staatsschule«, »Waldorfschule« und so weiter. Das Wesen des Denkens verkörpert sich in Denk-Leibern, die in der Geschichte der Philosophie dokumentiert sind.
Eurythmie ist auch ein Wesen. Wie das Denken, die Kunst, die Erziehung, ist sie eine Funktion des menschlichen Geistes. Leiber und Strukturen, Epochen und Kulturimpulse entstehen und vergehen. Sie vergehen, weil sie als Struktur dem sich entwickelnden Wesen nicht mehr dienlich sind. Warum sind wohl so viele Waldorflehrer heute auf der Suche nach neuen kollegialen Strukturen? Weil der alte Leib nicht mehr der Evolution ihres Wesens dient. Warum suchen Klassenlehrer nach neuen Unterrichtsformen wie dem beweglichen Klassenzimmer? Weil sie für die Kinder der Gegenwart nach einem entsprechenden Hauptunterrichts-Leib suchen.
Ich finde, dass die Eurythmie aufgrund ihrer seit vielen Jahrzehnten stagnierenden künstlerischen Entwicklung anfangen muss, sich einen neuen Leib zu bauen. Sie muss neue Bewegungsstrukturen entdecken und schaffen. Sie bedarf einer grundlegenden Erneuerung, um wieder Anschluss an die Gegenwart finden zu können. Die Erneuerung muss auf vielen Ebenen stattfinden: beim Denken über sie, bei der Ausbildung, bei den Bewegungsgewohnheiten, bei der Ästhetik. Den Kindern und Jugendlichen zuliebe müssen wir sie umwandeln, das heißt, uns umwandeln. – Drei Inspirationsquellen kenne ich dafür. Erstens: die Kinder und Jugendlichen selbst. Wenn wir tief genug an das glauben, was die neue Generation uns sagt, finden wir den nötigen Mut, uns zu ändern. – Zweitens: das Wesen der Eurythmie. Steiner hat keine Kunst ins Leben gerufen, die nicht entwicklungsfähig ist. – Drittens: die eigene geistige Arbeit.
Hinweis: Weiteres zu den Jugendeurythmie-Projekten (Filme, Dokumentationen, Presse), zur Eurythmie im Allgemeinen (Aufsätze zur Ästhetik und Menschenkunde sowie das vergriffene Buch »Rudolf Steiners Eurythmische Lautlehre«) und zum gegenwärtigen Versuch, an einer neuen Eurythmie zu bauen, unter www.eduardojenaro.eu