Ausreißer

Ute Hallaschka

Schon im Vorfeld ein bemerkenswertes Phänomen. In sämtlichen Städten liefen Previews – in Anwesenheit der Filmemacher – die nach kürzester Zeit ausverkauft waren. Kaum ein Magazin, in dem sich nicht ein Hinweis auf den Film fand, auch in den Nachrichten diverser Fernsehsender. In München, wo ich mich gerade aufhielt, gab es eine Zusatzvorstellung am Nachmittag, die ich besuchen konnte. Als ich aus dem Kino kam, kurz vor der Abendvorstellung, bot sich ein erstaunlicher Anblick. Eine rund 50 Meter lange Menschenschlange, dichtgedrängt wand sich durch den Innenhof, die anschließende Passage hindurch bis zur Straße. So etwas habe ich vor einer Programmkinokasse noch nie gesehen. 

Der Film dokumentiert die Abenteuerreise von zwei Mittdreißigern aus Hamburg. Depressiv, kurz vorm Burnout beschließen sie mit einem alten Jeep durch Afrika zu fahren, um der Alltagsroutine zu entfliehen. Soweit, so bekannt. Die beiden Schlagwörter, die unvermeidlich dazu gehören, heißen: Freiheit – von der auch im Film dauernd die Rede ist – das andere, ungenannte, worum die dargestellte Sehnsucht zu kreisen scheint, könnte Authentizität lauten. Damit beginnt das Trauerspiel der Verwechslung.

Lena und Ulli, die beiden Protagonisten, sind putzmuntere, inzwischen leicht abgerissene Hippie-Gestalten, die geradewegs den 1970er Jahren entsprungen sein könnten. Aber so selbstvergessen und selbstverständlich überzeugt von der eigenen Originalität, als hätte es das letzte Jahrhundert nie gegeben. Denn diese Art Reisen war damals an der Tagesordnung. Wenn auch aus anderen Gründen. 

Das Publikum ist völlig homogen – es bildet dieselbe Altersklasse der 30-40Jährigen. Ich nenne sie die Generation Robot. Die letzte, die noch in einer analogen Kindheit aufwuchs und die erste, die über eine vollelektronische Jugendzeit verfügte. Was im Gespräch zwischen dem Duo und dem ehrfürchtig lauschenden Publikum vorgeht, ist eine Art Zauber, den man wahrnehmen kann, auch wenn man ihn nicht teilt. Ein geheimes Einverständnis, mit dem jede kritische Urteilskraft abgestellt wird und sich jegliche Seelenregung in einer Wolke von Wohlgefallen auflöst. Diese Wolke schwebt über allen, eine Like- und Follower-Projektion.

In dem Werbetext heißt es: »Dieser Film ist für die, die gerne reisen, für die, die nicht reisen können, für die, die bereits in den Startlöchern stehen und für die, die von ihren ›Abers‹ noch zurückgehalten werden.«

So fuhren sie nach Afrika. Sieh an, die Wüste, da fahren wir mal rein. Ob das Wasser reicht? Mal schauen! Das Auswärtige Amt hat zwar vor dem doofen IS gewarnt, aber der ist dann doch weit und breit nirgendwo zu sehen. Den Mutigen gehört die Welt. Man wundert sich in MeeToo-Zeiten, dass sich niemand wundert, über diesen Film. Lena tanzt, spielt und hoppst durch Afrika, während Ulli ständig den Karren aus dem Dreck zieht, das Auto reparieren und sich scheinbar um allen möglichen Mist kümmern muss. Dafür hat er dauernd schlechte Laune und versaut die Stimmung. Lena dokumentiert und kommentiert wie der olle Ulli einfach nicht richtig loslassen kann, um ganz entspannt im Hier und Jetzt seinen Spaß zu haben. Während er mit Darmparasiten völlig erschöpft im Krankenhaus liegt, hält Lena eiskalt die Kamera drauf und kommentiert mit gnadenloser Verachtung seine Schwäche. Ulli dagegen, als es ihm wieder besser geht, bekennt in selbstbezichtigender Manier: Ja, er sei wirklich noch nicht so weit entwickelt wie die unverwüstlich positive Lena. Auch das bestaunen die Zuschauer tapfer als authentische Beziehungsgeschichte. 

Sowohl der Lebenshintergrund der Protagonisten und die Vorgeschichte der Reise, als auch die politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse der immerhin zwei Jahre lang bereisten Länder in Westafrika werden nur gestreift. Es geht vorrangig um die netten Leute, die man überall trifft und die wundervoll fröhliche afrikanische Lebensart: Bei aller Härte das Leben einfach zu leben. Es sind schreckliche Glückskeks-Dialoge. Doch in technischer Hinsicht ist der Film sehr gut gemacht und hervorragend geschnitten. Das liegt vielleicht daran, dass Lena in ihrem früheren Leben offenbar Journalistin war.

Während ich dies schreibe, plagt mich mein Gewissen. Es ist überdeutlich, dass die beiden in ihrer naiven Fröhlichkeit und dem scheinbar aufrichtigen Bemühen um Unmittelbarkeit keinerlei Eigenwahrnehmung von der Wolke ihrer schablonenhaften Rhetorik haben. Das macht den Film umso gespenstischer. Am Ende sammeln sie Geld für afrikanische Freunde, gegen Genitalverstümmelung und für Straßenhunde. Ihr Tun macht einen ehrlichen Eindruck, vielleicht spenden sie auch die Filmeinnahmen ...

Alles wäre erklärlich, wenn sie Anfang Zwanzig wären. Doch sie stehen in der Lebensmitte, nicht anders als das Publikum mit seiner Sehnsucht nach Glück. Denn darum geht es letztlich. Doch wenn das Unglück unserer kulturellen Weltlage tatsächlich zukünftig mit den Impulsen beantwortet werden sollte, die dieser Film vermittelt – dann Gnade uns Gott. Aber da ist ja noch Greta, die so viel jünger und so viel reifer ist. Nicht ausreißen – standhalten ist ihre Devise.

Reissaus. Zwei Menschen. Zwei Jahre. Ein Traum. Dokumentarfilm von und mit Lena Wendt und Ulrich Stirnat, Afrika 2019, 120 Min., FSK0, reissausderfilm.de