Flucht – Trauma – Schule. Notfallpädagogik und die Arbeit mit Flüchtlingskindern

Sven Saar

Wenn traumatisierte Menschen in unserem Land ankommen und ihre lange Reise zu Ende ist, brauchen sie weit mehr als Decken und Wasserflaschen. Hinter ihnen liegen das Heimatland, aus dem sie fliehen mussten, und die Gründe für diese Flucht. Naturkatastrophen, Krieg, Gewalt oder Armut und die Angst, dass alles nur noch schlimmer werden kann, haben sie dazu bewogen, sich auf den unsicheren Weg in ein sicheres Land zu machen, in die Heimatlosigkeit.

Eine Flucht lässt sich nicht planen. Die fliehenden Menschen müssen sich ständig an neue Situationen anpassen, müssen Erschöpfung, Panik, Lebensgefahr, Krankheit und sogar Tod der Mitreisenden aushalten. Im Ankunftslager warten Schlangen, Gedränge, mangelnde Privatsphäre, Misstrauen und Bürokratie. Wenn all das endlich überwunden ist und man sich eigentlich sicher fühlen kann – und zu diesem Zeitpunkt kommen die meisten Europäer erst mit Flüchtlingen in Kontakt – drängen die Folgen der durchlittenen traumatischen Strapazen an die Oberfläche. Schon Erwachsene werden die seelischen Wunden, die ihnen während der Flucht zugefügt wurden, kaum aus eigener Kraft heilen können. Um wieviel hilfebedürftiger sind da die Kinder!

Am Parzival-Zentrum leben fünf Schulen unter einem Dach. Allen ist ein inklusiver, therapeutischer Ansatz gemeinsam, und hier werden zur Zeit 100 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge auf der Grundlage der Waldorfpädagogik unterrichtet. Im ganzen Land richten Waldorfschulen Flüchtlingsklassen nach ähnlichen Gesichtspunkten ein. Auf welche Chancen und auf welche Probleme müssen sich Menschen einstellen, die sich dieser Arbeit widmen wollen?

Bernd Ruf, der Schulleiter des Parzival-Zentrums, ist auch Initiator des Notfallpädagogik-Teams der »Freunde«. Gemeinsam waren sie an einem Wochenende im Oktober Gastgeber für über 200 interessierte Menschen, die teilweise schon seit Jahren im In- und Ausland mit traumatisierten Flüchtlingen arbeiten oder das in der Zukunft tun wollen. Diese Menschen haben sich viel zu erzählen: Alle Pausenzeiten werden überschritten, alle Vorträge und Arbeitsgruppen ziehen intensive Diskussionen nach sich. Manche Teilnehmer sind weit gereist: 26 Waldorfschulen von Stade über Berlin bis zum Bodensee haben Vertreter geschickt, und es begegnen sich aktive Flüchtlingshelfer aus der Schweiz, aus München und Passau.

Doch guter Wille allein reicht nicht. Bernd Ruf legt eindrucksvoll dar, wie eine gut gemeinte, aber naive Intervention das Trauma verschlimmern kann. Auch ist es mit der bloßen Aufnahme von Flüchtlingen in den Schulbetrieb nicht getan. Wir sollten uns nicht fragen, wie sich die »Fremden« möglichst störungsfrei in unsere Schulen, unsere Gesellschaft eingliedern lassen, sondern was sie brauchen, damit sie in der Vergangenheit Erlebtes so bald wie möglich verarbeiten und aus ihrer Krise eine Chance für die Zukunft machen können. Genau das war schon immer der Ansatz der Waldorfschule: Was braucht der Mensch für seine Entwicklung? Aus diesem Grund sind unsere Einrichtungen hervorragend geeignet, sich den neuen Herausforderungen zu stellen. Vieles von dem, was in unseren Schulen und Kindergärten täglich geschieht, kann unter den richtigen Bedingungen heilend wirken.

Wer an diesem Wochenende teilgenommen hat, weiß, dass sich die Frage nach dem persönlichen Engagement nicht mehr als »ob«, sondern als »wie und wann« stellt. Millionen von Menschen kommen nach Europa, damit unsere Kultur sich mit ihnen und durch sie verändern, ja weiterentwickeln kann. Das bedeutet, dass wir »alten« Europäer nicht an alten Werten festhalten dürfen.

Wenn unser Blick aber für die Anforderungen der Zeit einmal geschärft ist, können wir ihn nicht mehr abwenden. Auf Dauer kann sich keiner dem menschlichen Mitgefühl entziehen, der nicht in Unwissenheit verharren will.

Link: www.parzival-zentrum.de

Hinweis: Tagung Flucht – Trauma – Schule. In Kooperation mit dem Bund der Freien Waldorfschulen findet von 5. bis 6. März im Parzivalzentrum eine Tagung zur Notfallpädagogik und der Integration von Flüchtlingskindern in Waldorfschulen statt.

Siehe: www.erziehungskunst.de/termine

Der Bund hat eine Koordinierungsstelle Flüchtlinge eingerichtet: Kontakt: Susanne Stoll, E-Mail: s.stoll@freunde-waldorf.de Tel.: +49 (0)7 21/35 48 06-131