Vor drei Jahrzehnten las ich an meiner Uni den Graffiti-Spruch »Jeder ist Ausländer, fast überall« – wer nur etwas nachdachte, konnte ihn nur bestätigen. Heute ist das Geschrei und die Sorge um die Flüchtlinge groß und selbst Fußballstars werden von Politikern öffentlich verunglimpft. Die Rechtspopulisten sind heute in einigen europäischen Ländern auf Vormarsch. Die Lage hat sich seit dem »Deal« mit Erdogan für Deutschland entschärft, das »Problem« wurde allerdings weg vom Balkan auf die viel gefährlicheren Routen über das südliche Mittelmeer verschoben. Die Bilder der gekenterten Boote reißen nicht ab. Die Toten sehen wir nicht. Auch nicht die in ihrer unmenschlichen Tragweite wirtschaftlichen Interessen des mafiosen Schlepper- und Waffengeschäfts, der geostrategischen Spiele um Ressourcen, deren Blutzoll Krieg und Menschenleben sind. Am unangenehmsten scheint der Gedanke zu sein, dass die westlichen Nationen, die Verursacher der Flüchtlingsbewegungen sind. Reflexartig wird dagegen jeder ausländisch aussehende Mensch als Bedrohung erlebt, um so mehr, wenn die eigene wirtschaftliche Lage prekär ist und in ihm ein Konkurrent des eigenen Wertesystems, der Besitzstandswahrung und der wohlfahrtsstaatlichen Sozialleistungen gesehen wird, er auch noch unsere Arbeitsplätze streitig macht und die Wohnungen wegnimmt. Wer sich als Verlierer fühlt, sucht Sündenböcke. Und die »Fremden« eignen sich immer dafür.
Die »Neuankömmlinge« brauchen unsere konkrete Hilfe. Sie ist am wirksamsten, wenn Integration bewusst auf Integration verzichtet, weil sie das Anders- und Fremdsein als »normal« erklärt. Nur in Eins-zu-eins-Begegnungen mit Flüchtlingen lösen sich diffuse Überfremdungsängste. Andreas Siegert vom Zentrum für Sozialforschung in Halle beschreibt diesen Perspektivwechsel treffend: »Ausländer sind blöd, aber der nebenan ist nett« und erzählt, wie drei Syrer in dem örtlichen Fußballverein in Sachsen-Anhalt mitspielen und von rechtsgerichteten Fans in Bomberjacken angefeuert werden. Ein sozialpsychologisches Paradox, aber wahr: Die vorurteilsbehaftete Vorstellung widerspricht der gelebten Praxis.
Soll Integration gelingen, muss sie differenziert und zeitnah ansetzen: Bei den Kindern mit dem Erwerb der Sprache und Sozialkontakten, je früher desto besser, bei den Erwachsenen mit einer Aufgabe, einer sinnvollen Arbeit oder Tätigkeit. Das überfordert die deutsche Bürokratie, allein die Verfahrensdauer schafft unguten Leerlauf. Deshalb ist Ehrenamt und Eigeninitiative gefordert. Jeder kann anfangen, vor Ort in der Nachbarschaft, im Stadtteil, in sozialen Einrichtungen oder in Vereinen – ohne die wirtschaftspolitischen Hintergründe auszublenden, die die inneren und äußeren Verdrängungs- und Fluchtbewegungen vorzeichnen.