Digitale Medien: Eltern müssen Verantwortung übernehmen

Tilla Trustaedt-Kiersch

Doch früher oder später wird das Kind auf genau diese Seiten kommen, auf die es nicht kommen darf, sei es, dass ein Freund oder eine Freundin ihm die entsprechenden Seiten zeigen. Und das geht schnell, wie wir alle wissen. Das Kind sieht sich den Inhalt der Seiten an und weiß sofort: Jetzt mache ich etwas Verbotenes und bekommt ein schlechtes Gewissen. Zu den Eltern wird es sicher nicht gehen und ihnen alles erzählen, denn deren Vertrauen hat es ja eben gebrochen. Daraus entwickeln sich Schuldgefühle, und wir sehen, wie das »Geschenk« zu einer Belastung für das Kind und die Eltern wird. Das Smartphone, verpackt mit Vertrauen und rosa Schleife, entpuppt sich als eine schwere Verantwortung, der das Kind noch nicht gewachsen ist und die eigentlich die Eltern zu tragen haben.

Eltern stehen damit heute vor einer extrem schwierigen Aufgabe. Das Smartphone gibt es noch nicht sehr lange. Die daraus entstehenden pädagogischen Herausforderungen sind jedoch immens und wachsen exponentiell. Denn das Smartphone ist kein Geschenk im herkömmlichen Sinn, weil der Umgang damit in die besondere Verantwortung der Eltern, nicht des Kindes fällt. Das ist ein täglicher Kampf. Diese Verantwortung können wir nicht abgeben oder auf unser Kind übertragen. An dieser Stelle kann nur Kontrolle fruchtbar sein.

Vertrauen und Kontrolle sind kein Widerspruch

Als Mutter von vier Kindern mit jetzt schon einiger Erfahrung im Umgang mit digitalen Medien kann ich sagen, dass der größte Antagonist in der Erziehung das Smartphone meiner Kinder und der Umgang damit ist. Es wird viel über Medienkompetenz gesprochen. Medienkompetenz kann sich meiner Erfahrung nach jedoch nur entwickeln, wenn die Kinder so lange wie möglich medienabstinent leben dürfen. Medienkompetenz bedeutet für mich, dass das Kind so viel Innerlichkeit, so viel Innenraum ausbilden kann, dass es diese Fremdeinwirkungen als solche bei den digitalen Medien erkennt. Ein Zeichen dafür, dass solche Innerlichkeit vorhanden ist, kann sein, dass ein Kind nach einer gewissen Zeit an seinem Smartphone bemerkt, dass es ihm zu viel wird. Ich denke, dass ein Kind, das schon im frühen Alter digitale Medien benutzt, nicht zu einem Ende finden kann. In meiner Wahrnehmung wirken junge Kinder, die zu viele digitale Medien nutzen, überfordert und verloren.

Manche Kinder wollen sich immer wieder neue Spiele herunterladen, obwohl sie dies nur in Absprache mit den Eltern machen dürfen. Trotzdem geschieht es immer wieder, dass die Abmachungen nicht eingehalten werden. Da hilft meines Erachtens nur regelmäßiges Kontrollieren des Handys. Mit dieser Kontrolle haben viele Eltern allerdings Probleme, weil sie denken, sie würden dem Kind nicht vertrauen. So meinte neulich ein Waldorflehrer: »So ein bisschen Privatsphäre im Internet müsste man dem Kind doch lassen«, woraufhin ich ihn gefragt habe, ob er im Ernst der Meinung sei, dass es im Internet überhaupt Privatsphäre gebe.

Das zeigte mir: Der freiheitliche Umgang benötigt entschieden die Übernahme von Verantwortung. Verantwortung zu übernehmen, hat etwas mit pädagogischer Kompetenz zu tun. Eine wertvolle Stütze kann hier die Elternschaft einer Schulklasse sein, indem ein gemeinsam hergestellter Verantwortungsraum gebildet wird, innerhalb dessen sich das Kind in Freiheit bewegen kann. Das heißt, die Elternschaft legt Regeln fest, kontrolliert und begleitet die Kinder im Umgang mit ihrem Smartphone. Wir müssen die Elternabende mehr dafür nutzen, diese Art der Verantwortung für unsere Kinder wahrzunehmen.

Begegnung wird unterbunden, Gestaltungskraft gestoppt

Um diesen gemeinsamen Verantwortungsraum bilden zu können, müssen die Eltern die geistig-seelischen Auswirkungen der digitalen Medien auf die Entwicklung der Kinder einschätzen lernen. Dazu gehört die Erkenntnis, dass Entwicklung nur in Bewegung stattfindet, d.h. wenn der Mensch schöpferisch tätig ist, was bei der Nutzung digitaler Medien nicht der Fall ist. Diese unterbinden die eigene Tätigkeit. Der Mensch reagiert, wie es ihm das Medium vorgibt. Je stärker der Mensch von den digitalen Medien Gebrauch macht, desto weniger Möglichkeit hat er zur eigenen, individuellen Entwicklung. Das schöpferische Tun, insbesondere aus dem Spiel aus sich heraus, ist eine der zentralen Vorbereitungen dafür, dass sich ein aktives Ich im Erwachsenenalter ausbilden kann. Digitale Spiele sind das Gegenteil davon.

Alle Menschen, besonders die kleinen und jungen, sehnen sich danach, geliebt, gesehen, anerkannt zu werden und dazuzugehören. Diese Sehnsucht bleibt immer ein Stück weit unerfüllt, weil wir es nie mit perfekten Menschen zu tun haben. »Social Media« wie facebook, Whatsapp, Instagram und Co. bedienen sich auf geschickte Weise dieser menschlichen Sehnsucht und erzeugen immer neue Sehnsüchte nach Kommunikation, Anerkennung und Begegnung. Wie schädlich sich ein digitaler Dauerkonsum auswirkt, zeigen nicht zuletzt die Ergebnisse der Hirnforschung, die von einem Umgang mit digitalen Medien vor dem zwölften Lebensjahr dringend abrät.

Verlust von Innerlichkeit

Auf dem Küchentisch steht eine Vase mit einem wunderschönen Strauß von roten, orangenen und gelben Tulpen. Ein kleines Kind von etwa fünf Jahren sitzt am Tisch und staunt in die bereits halb geöffneten Blumenkelche. Wie aus dem Nichts taucht die Frage auf: »Was meinst du, wie viele Engel wohl in eine Blüte passen?« Berührend – oder? In diesem »magischen Alter« sagen die Kinder noch wunderschöne Dinge. Sie zeigen, wie selbstverständlich sie noch mit allem, was ist, verbunden sind, der ganze Kosmos ist in ihnen. Wenn das kleine Kind nun digitale Medien nutzt, wird es aus seiner Innerlichkeit herausgezogen und taucht in eine fiktive Welt ein. Und da es noch klein ist, kann es diese beiden Welten nicht voneinander trennen und denkt, auch die digitale Welt sei die seine.

So kommt es z.B. zu der Aussage eines fünfjährigen Jungen beim Spaziergang, wenn er müde wird: »Mein Energie-Level ist auf null. Ich muss ihn erst einmal wieder aufladen – KLING!« Daran wird deutlich, dass das Kind alle Eindrücke, auch die digitalen, aufnimmt und sich kaum von ihnen distanzieren kann.

Wenn Sehnsucht zur Sucht wird

Wenn das Kind älter wird, korrespondiert es auf der mentalen Ebene immer mehr mit seinem Gegenüber. Das führt zu immer mehr Bewusstsein und langsam auch zu einer Eigenverantwortung seinen eigenen Gefühlen gegenüber. Die ganz enge, überlebensnotwendige Zuwendung des Erwachsenen braucht das Kind nun nicht mehr, denn es lernt, diese in sich selber zu finden. Diesen Schritt in die Verantwortung kann das Kind nicht gehen, wenn es zu früh digitale Medien nutzt. Denn die oben genannten Sehnsüchte werden in die virtuelle Welt der digitalen Medien projiziert. Bei den sozialen Medien finde ich Freunde, ich gehöre dazu, werde geliked, werde abonniert, habe Followers. Es gibt Chat-Gruppen gepaart mit unzähligen perfekt designten Computerspielen, also ein rundum Sorglos-Paket für den ganzen Tag. Diese Sehnsüchte des Kindes werden bestens befriedigt, könnte man meinen, wenn es nicht so tragisch wäre – denn der Schein trügt. Die Kinder werden immer frustrierter, weil sie nicht wirklich das bekommen, wonach sie sich sehnen. Diese dauerhafte Sehnsucht führt sie in die Sucht.

Wenn man sich fragt, was befriedigender ist als das »perfekte« digitale Erlebnis, dann ist es das reale, nicht so perfekte Erlebnis. Bei dem digitalen Erlebnis bleibt der Nutzer immer »außen vor«, im echten ist er immer Teil des Ganzen, ist aktiver Mitgestalter des Geschehens und dies ist es, was man als Mensch eigentlich sucht. Gerne möchte ich noch mal das Bild des Blumenstraußes benutzen.

Ein Kind, das sich zu früh und zu oft in der virtuellen Welt aufhält, wird an dem Tisch mit dem Tulpenstrauß sitzen und auch hineinschauen, aber so als wären die Blüten abgeschnitten. Nicht dass es keine Blüten sieht, aber sie werden nicht zu ihm sprechen. Wie schreibt Jacques Lusseyran in seinem Buch »Gegen die Verschmutzung des Ich«: »Das Ich des Menschen entwickelt sich nur durch seine eigene Tätigkeit.«

Zur Autorin: Tilla Trustaedt-Kiersch hat vier Kinder im Alter von 13 bis 22 Jahren und ist wie ihre Kinder zur Waldorfschule gegangen.