Intolerantes Familienbild

Von Christine Demele, Oktober 2017

Leserbrief zu »Ganztagsbetreuung – muss das sein?« von Helena von Hutten und Noémi Schrodt, »Erziehungskunst«, Juni 2017, und »Lust aufs Elternsein versus Ganztagsbetreuung« von Katja Lehwalder, Mai 2017.

Zwei tendenziöse Artikel zum Thema, die mich nach der Lektüre mit einem unguten Gefühl zurücklassen. Ich hätte mir eine reflektierte, weltoffene und tolerante Sicht auf dieses Thema gewünscht. Es sollte eigentlich selbstverständlich sein, dass im Sinne einer von den Autorinnen Helena von Hutten und Noémi Schrodt vorgegebenen »selbstbestimmten Mutterschaft« Entscheidungen in Fragen der Lebensgestaltung und des Familienmodells völlig individuell und (wert-)frei getroffen werden können. Das gilt für Mütter, die ihre Kinder zu Hause betreuen, genauso wie für die in Voll- oder Teilzeit arbeitenden berufstätigen Mütter, die auf einen Ganztags- oder Krippenplatz angewiesen sind.

Auch wenn es nicht in das Familienbild der Autorinnen passt, gibt es Mütter, die sich nicht nur über ihre Familie definieren und für die zu einem erfüllten Leben auch berufliche Selbstverwirklichung gehört. Und unter diesen gibt es Frauen, die sich auf der Suche nach einem Betreuungsplatz für ihre Kinder ganz bewusst für eine waldorfpädagogische Einrichtung entscheiden und heilfroh sind, wenn sie einen der gefragten und meistens zu wenigen Plätze erhalten. Diese Mütter würden für ihren Lebensentwurf unter Umständen abgestraft werden, wenn die Ganztags- und Krippenplätze in Waldorfeinrichtungen nur noch »Alleinerziehenden oder Geringverdienern« zustehen würden, wie es Helena von Hutten und Noémi Schrodt vorschlagen, die damit andersdenkenden Frauen geradezu von oben herab das Recht auf selbstbestimmte Mutterschaft absprechen, als würde dieses nur für ihr selbsternanntes Idealbild der »Vollzeitmutter« gelten.

Müssen wir uns gegenseitig ein schlechtes Gewissen machen?

Unter dem Feigenblatt der angeblichen Qualitätssicherung sollen hier Eltern zum »richtigen« Familienleben umerzogen werden, und da sie offenbar (vielleicht ja zu Recht) unbelehrbar sind, werden restriktive Maßnahmen wie die Verweigerung von Ganztags- und Krippenplätzen gefordert. »Im Sinne des Kindes« schreiben sich die Autorinnen auf die Fahne. Aber Rücksichtnahme auf das Wohl des Kindes wäre es wohl kaum, einem Kind den Waldorf-Krippenplatz zu entziehen, weil seine Mutter so »egoistisch« ist, einen Beruf auszuüben. Gerade die Waldorfkrippen sind doch Ausweis und Maßstab für qualitätsvolle Pädagogik im Kleinkindalter. Die individuelle, liebevolle Zuwendung der geduldigen Erzieherinnen mit ihrer waldorfpädagogischen Erfahrung, die Harmonie und Ruhe ausstrahlenden Räume, der bessere Personalschlüssel und anderes mehr, das sind Gründe, aus denen sich viele Eltern, nicht nur mit Waldorf-Hintergrund, keinen besseren Krippenplatz für ihr Kind vorstellen können. (Der Hinweis auf die angeblich ausreichenden anderen zur Verfügung stehenden Betreuungsplätze dürfte für viele Eltern übrigens wie Hohn klingen.)

Der Erkenntnisgewinn aus der Lektüre der beiden Artikel liegt für mich darin, dass sich ganz offenbar nicht nur Mütter, die ihre Kinder ganztags betreuen lassen, ständigem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt fühlen, sondern auch die Mütter, die ihre Kinder zu Hause betreuen oder »nur« halbtags in den Kindergarten geben. Kann es denn sein, dass wir Mütter uns gegenseitig ein schlechtes Gewissen machen?

Wir sollten zum einen auf uns selbst vertrauen, dass wir es im Großen und Ganzen schon richtig machen. Gleichzeitig aber sollten wir anderen Müttern Vertrauen entgegenbringen und ihre möglicherweise anderen Lebensentwürfe als ebenso berechtigt anerkennen. Respekt und Toleranz vorausgesetzt, wäre das selbstbestimmte und liebevolle Elternsein dann der gemeinsame Nenner, auf den sich die verschiedenen Sichtweisen und Familienmodelle verständigen können.

Zur Autorin: Dr. Christine Demele, Kunsthistorikerin und Mutter von zwei Kindern, hat selbst den Waldorfkindergarten in Kassel und die Waldorfschulen in Kassel und Heidelberg besucht.

Kommentare

Mirû , 01.10.17 16:10

Ja, es ist egoistisch, sich nicht um sein Kind zu kümmern, wie es das braucht, nur weil man lieber einer Chimäre von "Selbst[bild]verwirklichung" nachstrebt, in der das Kind auch nur noch einen Lifestyle-Artikel darstellt, ein nettes Gadget, ein Image-Objekt. Dann lieber gar keine Kinder bekommen! Es gibt mittlerweile massig Belege aus der Säuglings-, Bindungs-, Trauma- und entwicklungspsychologischen Forschung dafür, dass ein Kind* die konstante, sichere Bindung zu einer(!) emphathischen Bezugsperson (möglichst die Mutter) braucht, um sich auf dieser haltgebenden Basis gesund (selbstbestimmt von ihr fort in die Eigenständigkeit) entwickeln zu können. Man braucht sich dann nicht wundern darüber, dass die Beziehungsqualität zwischen Mutter/Vater und Tochter/Sohn bescheiden ausfällt. Unsere psychischen, psychosomatischen und sonstigen Probleme heutzutage haben Ursachen.
Zum Einstieg in das Thema empfehle ich immer: "Auf der Suche nach dem verlorenen Glück - Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit" von Jean Liedloff.

* = manche [ca. 30%] mehr - "Orchideenkinder" -, manche [ca. 30 %] weniger - "Löwenzahnkinder" -, manche [ca. 40 %] etwas dazwischen - "Tulpenkinder"; Quelle: http://tinyurl.com/ycbxtw9z

kathrin demele, 03.10.17 16:10

Dieser Leserbrief stellt genau das dar, was viele Menschen und auch ich als dogmatisch empfinden. Eine Mutter, die Ihr(e) Kind(er) in die Krippe gibt "kümmert sich nicht" darum??? Wissen Sie denn, um welche Kinder es sich handelt? Es ist Ihnen doch freigestellt, sich selbst voll und ganz Ihren Kindern zu widmen, wie man so schön sagt.
Wie kann man, wenn man menschenkundlich erziehen möchte, denn so platt verurteilen?
Ich selbst habe 5 Kinder "erzogen", und das als "Voll-Mutter" und -Hausfrau. Nachdem alle mindestens jugendlich waren, war mein Lebenskreis und -gefühl so verengt, daß ich seelisch eingegangen wäre wie eine Pflanze, um die sich keiner kümmert, wenn sich nicht neue Horizonte aufgetan hätten. Ich persönlich bin froh, daß es heute die Möglichkeiten der Wiegestuben und Krippen gibt, die den jungen Müttern ermöglichen, nicht nur im familiären Leben, sondern im "Welt-Erleben" zu stehen. Daß die ersten Lebensjahre sehr wichtig für die Entwicklung eines Kindes sind, steht außer Frage. Aber eine Mutter, die ihren eigenen Lebensbereich behalten darf, wird zufriedener sein, als wenn man sie, (wie im Artikel und Leserbrief) zwingen würde, sich ausschließlich mit den Kindern zu beschäftigen.
Aber vor allem: ich fände es schlimm, wenn "in anthroposophischen Kreisen" Dogmatismus vorherrschen würde, wie er in obigem Brief zum Ausdruck kommt. Darf nicht jeder SEIN bzw. IHR Leben leben?
Und im Übrigen: statt (un-)zählige Studien zu lesen, beschäftige ich mich lieber mit "echten" Kindern! Mit freundlichen Grüßen

Astrid Böhme, 08.05.18 21:05

Es steht jedem frei, sein Kind solange ausschließlich im eigenen häuslichen Umfeld zu betreuen, wie es angemessen, gesund und richtig erscheint und wie es die persönlichen Umstände zulassen. Die freie Entscheidung des Einen ist ebenso die freie Entscheidung des Anderen. Wir befinden uns in einer Zeit, in der es mehr als Not-wendig ist, einander mit Achtung vor der jeweiligen individuellen Prägung zu begegnen. In dieses mitmenschliche Lern- und Üb-Feld schließe ich Schicksalswege der heutigen kleinen Kinder mit ein.
Wir können uns bewusst entscheiden - und das habe ich, wie auch all meine Kolleginnen, getan - für die Kinder unserer Zeit mit all unserem Wissen, mit all unserer Begeisterung, mit all unserer Ehrfurcht, mit all unseren Herzens- und Liebeskräften und ganz besonders mit all unserem Humor, Räume zu schaffen, zu gestalten (äußere wie innere) in denen sie durchaus auch nach heutigen Anforderungen Waldorfpädagogik erleben, in die sie behutsam und jedes seiner Art entsprechend hineinwachsen, in denen sie sein dürfen.

Die Charakteristik der Waldorfpädagogik definiert sich heute ganz besonders über die Bereitschaft, den vielen Kindern die derer bedürfen ein Freund sein zu wollen, indem wir ihre Schicksalswege anerkennen, uns ihnen stellen und neue Wege mutig und mit frischen Ideen und Konzepten kreieren. Es geht um die große Menschengemeinschaft, für deren positive Entwicklung jeder Akt der Liebe und des Anerkennens des Handelns des Anderen in Freiheit, der Erkenntnis der eigenen Fehlbarkeit und des Vergebens, mehr und mehr ein Baustein für die Zukunft aller Wesen und der Verwandlung der Erde ist.

Wir sind in der Lage, gerade auf der Grundlage der Anthroposophie, zu bejahen, was der Zeitgeist fordert. Dies gelingt am besten mit Selbstreflektion und immer wieder neuem Anschauen jedes einzelnen Kindes, individuell und in der Gruppe. Dieses gelingt noch besser, wenn wir auf Augenhöhe, in Achtsamkeit und Respekt sowie in Anerkennung der Individualitäten, unsere Eltern unserer gemeinsamen Kinder mit ins Boot nehmen.

In beiden Einrichtungen in denen ich tätig war, gab es Wellness-Elternabende. Räume, die schon beim Eintreten jeden der nach einem langen Arbeitstag zu uns kommt, mit Kerzen – Laternenschein und/oder frischen Blumen, gelegentlich auch leiser klassischer Musik empfängt. Das ist ein fein gedeckter Tisch mit Suppe, Salat, selbst gebackenem Brot und Kuchen, heißem duftendem Tee oder kühlen Getränken, je nach der Festes- und Jahreszeit bestückt. Das ist ein Gedicht oder eine Geschichte am Ende des Elternabends, mit denen wir unsere Eltern unserer gemeinsamen Kinder in die Nacht entlassen. Ja, es gab auch an einem Abend Gute Nacht, Freunde! von Reinhard Mey und einen Elternabend, der mit Walzermusik und Tanz - in Freiheit ;o) - begann.
So eingebettet können praktische und pädagogische Themen, Fragen und Antworten, Gespräche aufatmend ihr Leben entfalten. Ein persönliches Wort noch zu meinem Kommentar hinzufügend, möchte ich dieses Kapitel für mich dann auch hier abschließen. Soeben erhalte ich eine Bildmitteilung meiner jüngsten Tochter. Es ist ein sehr lustiges Foto, das sie auf dem Hamburger Dom gemeinsam mit ihren Freundinnen aufgenommen hat und darunter steht "Beste Kolleginnen der Welt!" Diese drei fröhlichen jungen Frauen arbeiten in einer staatlichen Kita.
Was dort geleistet wird in dem Spagat zwischen der Realität jeden Tag und dem Herzensbemühen, der unglaublichen Ruhe und Geduld, der Klarheit und Konsequenz, der Kreativität und immer wieder auch dem Humor, gestattet es keinem anders gearteten Welt- und Erziehungsbild darüber zu werten oder es in Frage zu stellen. Denn immer sind es Menschen, die Lebensräume gestalten und Beziehungen pflegen und keine übergeordneten Ideologien. Und dazu renovieren und gestalten sie auch noch am Wochenende ihren Kunstraum neu und das alles geschieht in einer unkomplizierten, natürlich-kreativen Weise, die von einer nicht zu erschütternden Leichtigkeit und einem gesunden Optimismus getragen ist, voller Freude.
Wo wir auch stehen auf unserem Platz in unserer Welt, wofür unser Herz brennt und wofür wir uns dienend, selbstreflektiert und selbstbewusst einsetzen, es gelingt wesentlich besser in der Akzeptanz, der Achtung und der Liebe zum anderen Menschen, die auch mir hilft ein Mensch zu sein oder immer mehr zu werden und das nicht nur dann, wenn sie mir entgegen gebracht wird. Es ist die Zukunft, die von uns neue Wege fordert, die Zukunft die schon lange in unsere Gegenwart hinein tönt. Es kann und wird natürlicherweise nicht immer und überall nur die Sonne scheinen. Aber wir können uns bemühen, einander immer wieder so viel Sonne zu sein wie nur möglich.
In jedem Moment meines Lebens kann ich mich bewusst entscheiden für einen konstruktiven Weg meines Denkens, meiner Gefühle und Empfindungen, meines Handelns. All das zusammen, diese innere Haltung, sind wir unseren Kindern nicht nur schuldig, sie selbst weisen uns diesen Weg. Immer wieder werden wir scheitern. Aber das was uns gelingt, wird zum Baustein für die Zukunft des Menschen.

Astrid Böhme, Hamburg; Schifffahrtskauffrau, zertifizierte Tagesmutter (Waldorfkindergarten-Seminar Hannover), Mitbegründerin der Waldorfkrippe Die Kinderstube e.V. in Hamburg-Hausbruch, Sterbebegleiterin (Carus-Akademie, Hamburg), Elternberaterin Frühe Kindheit, (ipsum München), zertifizierte Tanzpädagogin (TuT, Hannover), in der Waldorfpädagogik tätig seit 1983. Vier Kinder, vier Schwiegerkinder, acht Enkelkinder, z.Zt. keine Katze ;o)

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