Lernen mit Gefühl

Axel Ziemke

Viele moderne Psychologen sind der Annahme, dass sich beim Lernen kognitive Strukturen entwickeln. Lernen beginnt dort, wo eine bestehende kognitive Struktur aufgelöst oder zumindest in Frage gestellt wird. Das Kind trifft auf einen Sachverhalt, den es nicht versteht, auf ein Problem, für das es keine Lösung hat, auf ein Phänomen, das es nach seinem bisherigen Wissen überhaupt nicht geben dürfte, oder auch auf eine praktische oder künstlerische Aufgabe, die es noch nicht bewältigt. Es fühlt sich – verunsichert. Diese Verunsicherung kann allerdings verschieden erlebt werden. Sie kann Angst erzeugen, die das Lernen verhindert – oder sie kann den eigentlichen Lernprozess in Gang setzen. Im letzteren Fall empfinden die Schüler das nicht als negativ, sondern als spannende Herausforderung. Die Suche nach einer neuen kognitiven Struktur kann aber nur beginnen, wenn der Sachverhalt verständlich, das Problem lösbar, das Phänomen erklärbar, die Aufgabe zu bewältigen ist. Diese Struktur entwickelt sich schrittweise, tastend und ausprobierend. Sie ist aber letztendlich recht plötzlich »da«. In Form eines »Aha-Erlebnisses«, »Es hat geklickt« oder »Ich kann’s«. Ein Gefühl tiefer Befriedigung stellt sich ein, besonders dann, wenn der Schüler die Lösung selbst gefunden, aber auch dann, wenn ihm dabei geholfen wurde.

Die Hirnforschung führt dieses Gefühl der Befriedigung auf die Wirkung des Neurotransmitters Dopamin zurück. Die Funktion des Dopaminsystems ist im Tierexperiment inzwischen gut untersucht. Ratten bilden Dopamin dann, wenn sie in einem Labyrinth den Weg zu einem Leckerbissen gefunden haben. Gehen sie den gleichen Weg mehrmals, nimmt die Dopaminproduktion ab. Gehen sie einen Weg, den sie bereits gut kennen, kann der Hunger noch so groß und der Leckerbissen noch so lecker sein: Das Dopaminsystem bleibt inaktiv.

Die Verunsicherung ist also der erste Schritt zum Lernen. Es beginnt nur dort, wo der Schüler die Sicherheit des bereits Gewussten oder Gekonnten aufgeben muss. Gelingt dies nicht, findet kein Lernen statt. Bestenfalls üben die Schüler, vorhandenes Wissen oder Können anzuwenden. Dabei kommt allerdings früher oder später Langeweile auf. Die Schüler dürfen dabei nicht überfordert werden.

Weil gerade in Waldorfklassen sehr unterschiedliche Schüler sitzen, muss der Lehrer auf die verschiedenen Leistungsniveaus eingehen. Denn was einen »leistungsstarken« Schüler langweilt, kann einen »leistungsschwachen« bereits überfordern. Nicht zuletzt muss eine Lernatmosphäre geschaffen werden, in der diese Verunsicherung produktiv werden kann, indem sie »Spannung« erzeugt, aber keine »Verspannung«, die zu Lernblockaden und Ängsten führt. Dafür braucht  der Schüler ein Vertrauensverhältnis zur Lehrkraft, die Freundschaft seiner Mitschüler, eine fehlerfreundliche Atmosphäre und eine schöne Lernumgebung.