Vom Kind her denken! Den Eltern helfen!

Fabrizio Venturini

Ich möchte vorwiegend mit Fragen darauf antworten:

Im Zeittrend sein! Bloß kein elitärer Club geheißen werden! Wo endet das, wenn man anfängt, sich danach zu richten? Wer als Vegetarier kein Fleisch isst, wer als Demeter-Bauer keine chemischen Dünger einsetzt, wer in den USA keine Waffen im Haus hat, wer als japanischer Fischer keine Wale schlachtet, wer in einer bayerischen Dorfwirtschaft kein Bier trinkt, wer den Militärdienst verweigert – werden diese nicht alle auch als elitär beschimpft? Muss man alles mitmachen, um dazuzugehören?

Ist man elitär, wenn man die herrschenden Formen, hier die der institutionellen Kleinkindbetreuung, nicht gleich übernimmt, sondern erst hinterfragt? Besteht Waldorfpädagogik allein darin, dass man Einrichtungen anbietet?

Rudolf Steiner ließ sich nicht blenden von denen, die sich die einzig praktischen Leute dünkten, weil sie sich etwas anderes als das Geläufige gar nicht vorstellen konnten. Natürlich muss es Antworten auf die konkreten Nöte einer Zeit geben. Da ist die Not vieler Eltern, die ein Einkommen und weiter bestehende Berufsaussichten brauchen. Und da sind die Nöte der kleinen Kinder, die eine verlässliche Bindung zu Personen brauchen. Gut wäre es für die Eltern, wenn sie eine ausreichende finanzielle Grundlage und eine rechtliche Absicherung für den beruflichen Weg hätten. Gut wäre es für die Kinder, wenn ihre Eltern, also die Personen, mit denen sie eine enge leiblich-seelisch-geistige Verbindung eingegangen sind, Zeit für sie hätten. Ist es nicht ein Kurzschluss, zu glauben, dass diese doppelte Herausforderung und Aufgabe nur auf die zurzeit übliche Art zu lösen wäre? Sind keine Alternativen zur institutionellen Kleinkindbetreuung denkbar?

Gut wäre es für die Gesellschaft und für das Zusammenleben der Menschen, wenn der konkrete Mensch und nicht das Geld im Mittelpunkt der Anstrengungen stünde. Gehört es nicht mehr zum Waldorf-Impuls, die Gesellschaft nach den Notwendigkeiten der Menschen auszurichten (anstatt die Menschen, beginnend mit den kleinen Kindern, in die bestehenden Mechanismen der Gesellschaft einzupassen)? Die Gesellschaft menschlicher zu machen, gelingt nur, wenn man den Menschen in seiner Entwicklung versteht und die Umgebung seines Werdens demgemäß gestaltet.

Nun prüfe man einfach einmal, ob die Abläufe, die ein Kleinkind durchlebt, das an einigen Tagen in der Woche frühmorgens zur Krippe gebracht wird, kindgemäß sind, ganz unabhängig vom jeweiligen pädagogischen Konzept. Da fallen auf: die Unrhythmik, die vielen Ort- und Personenwechsel, die Überfülle an Eindrücken und Umgangsweisen, die gutgemeinten Forderungen und verdrängten Ängste der Eltern, die Bedingungen und Zwänge der Einrichtung und ihrer angestellten Erzieher, das Zusammensein mit anderen ebenfalls noch nicht gemeinschaftsfähigen Kindern, die zu anderen Zeiten kommen und gehen, teils im selben Raum schlafen, teils nicht, dann plötzlich abgemeldet werden als man sich an sie gewöhnt hatte, usw. Da könnte man sogar sagen: die dauernde Unterbringung in einem Heim böte in mancher Hinsicht mehr Klarheit und Konstanz. Aber das wäre der Gipfelpunkt der Abtrennung der Kinder von den Eltern. Soll die Zukunft denn dahin gehen? Wollen wir nicht lieber lernen und ernsthaft anfangen, vom Kind her zu denken?

Und andererseits: Sollte man nicht versuchen, den Eltern die wirtschaftlichen Nöte zu nehmen, statt sie gegen seelische Nöte der Kinder zu tauschen? Die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens ist da. Warum können wir in einer so hochentwickelten Gesellschaft mit ihrem noch nie so groß gewesenen Gesamtreichtum nicht mit einem garantierten Grundeinkommen für Familien mit Kindern beginnen? Die staatliche Förderung der außerfamiliären Kinderbetreuung könnte dafür wegfallen. Eineinhalb Jahre Ausfallzeiten pro Elternteil könnten eingeplant werden. Warum kann man nicht der Wirtschaft zumuten sich umzustellen, statt dies den Kindern aufzuzwingen?

Rudolf Steiner hat nicht nur die Waldorfpädagogik angeregt, sondern auch eine Gesamterneuerung der Gesellschaft durch eine Dreigliederung des sozialen Organismus nach dem Bild des Menschen. Der Ansatz beginnt damit, durch Einbeziehen des Geistigen neu und anders zu denken. Erscheinen aber neue Gedanken den Altdenkenden nicht immer elitär, erwachsen sie nicht gerade aus dem Weitersehen über das Geläufige hinaus? In einem erweiterten Horizont sieht man, dass das Wirtschaftsleben zurückbekommt, was es dem Geistesleben, besonders der Erziehung, schenkt. Berechnung und Zwang werden als Berechnung und Zwang zurückkommen; freie Gelder dagegen ermöglichen freie Initiativkraft. 

Wir brauchen den Mut, uns konsequent auf die Seite der Kinder zu stellen! Wenn wir uns erinnern an unser Erleben in der Kindheit, wenn wir uns Einfühlen in die unausgesprochene Daseinserwartung der kleinen Kinder mit ihrem Urvertrauen an unsere Vernunft, dann können wir anfangen, die Dinge anders zu sehen und anders zu gewichten!

Wie einen moralischen Riesen-Zeigefinger erheben manche heute die Warnung, sich bloß keinen Appell an das Moralische gefallen zu lassen, auch nicht den an das eigenständige Gewissen! Man missbilligt die Anknüpfung an das Geistige und meint, das sei modern. Ist aber in Wirklichkeit der Materialismus nicht längst überholt? Steiner sieht die Erziehungskunst als eine »moralisch-geistige Aufgabe« an (erster Satz der »Allgemeinen Menschenkunde«). »Habe den Mut, dich deiner Vernunft zu bedienen!« Mit dieser Anrufung, einem autonom-moralischen Imperativ, beginnt die Aufklärung. Gedankenlose Anpassung und bloßes Mitmachen, das ist das Alte.

Auch der Schicksalsbegriff wird häufig noch völlig falsch gedacht. Es ist unsinnig zu behaupten, dass alles was dem Kind widerfährt, sein ausgesuchtes Schicksal sei. Denn dann wäre ja, wenn wir die Kinder verhungern lassen, auch das sein Schicksal. In Wirklichkeit bereiten aber die Erwachsenen, die ihr Kind abschieben, ihr eigenes Schicksal vor. Das künftige Schicksal gestaltet sich zunehmend aus der menschlichen Freiheit, aus dem was wir tun oder unterlassen, und nicht mehr so sehr aus dem was uns zustößt. Die Eltern damit zu trösten, dass man nicht wissen könne, ob nicht der Erzieher in einem tiefen Schicksalszusammenhang zu ihrem Kind stehe, ist äußerst fragwürdig.         

Glaubt man denn, ein kleines Kind, das sich verbal noch nicht äußern kann, merke es nicht, wer es behütet und bekocht und ihm die Windeln wechselt und mit welcher inneren Motivation dies der Betreffende tut? Es kann sein und kommt in der Tat häufig vor, dass eine Erzieherin oder ein Erzieher aus Liebe zu dem zu betreuenden Kind handelt – aber das ist eigentlich nicht erwünscht im Sinne einer professionellen Auffassung des Berufes. Denn sonst ruft womöglich das kleine Kind am Wochenende nach seiner Erzieherin. Eine schicksalhafte Beziehung des Kindes zu seinen Erziehern, von der mancher faselt, um der Zugehörigkeit zu den Eltern das Gewicht zu nehmen, wollen die Eltern überhaupt nicht. Liebevolle Zuwendung aber ist für das Kind lebensnotwendig. Mit zu früher Fremderziehung kommt man in ein Dilemma.

Auch das Grundgesetz sieht das erste Erziehungsrecht bei den Eltern. Der Staat hätte die Aufgabe, den Eltern zur Erfüllung dieser Aufgabe zu helfen, nicht sie ihnen abzunehmen. Das Kind hat sich mit Vertrauen genau bei diesen seinen leiblichen Eltern inkarniert. Es bräuchte eine Schar von geistigen Helfern, um sich woanders genauso tief vertrauensvoll einzubetten. Keine institutionelle Einrichtung kann das im gleichen Umfang wie die Eltern leisten. Familienersetzende Maßnahmen sind für den Notfall. Der Kindergarten ab drei Jahren, wenn das Kind sich von den Eltern zeitweilig gerne loszulösen beginnt, ist eine sinnvolle Ergänzung. Aber Einrichtungen für Kinder vor dieser Entwicklungsstufe haben eine Grundproblematik: sie zwingen das Kind, sich zu trennen; sie haben, von einer Pädagogik zur Freiheit her gesehen, eigentlich nur eine Berechtigung – und das strahlt auf die Kinder aus! –, wenn es wirklich gar nicht anders geht. Sie sollten die Ausnahmen sein, nicht die Regel.  Dazu kommt, dass das Kind, das sich nach ganz persönlich-authentischer und konstanter Bindung sehnt, dies in dem erwünschten Maß von den Angestellten einer Institution gar nicht bekommen darf, weil diese für alle gleich sein sollen. Jedoch die Kraft und die Fähigkeit, beziehungsfrei aufzuwachsen, hat das kleine Kind noch nicht, sondern will es erst entwickeln.

Müsste man, bevor man handelt und in einem flächendeckenden Boom Einrichtungen schafft, die das Lernen und Arbeiten in allen weiteren Stationen der Entwicklung verändern, nicht diese Punkte erst genau durchdenken? Kann man dem Kind seine Eltern aus dem konkreten Erleben der Fülle des Tages folgenlos wegmogeln, um sie durch beliebige andere Bezugspersonen zu ersetzen? Kann man den Menschen beziehungsverdünnt zur Eigenständigkeit erziehen?

Der Zielgedanke, sich von der Herkunft zu befreien, ist richtig: die Moderne beginnt dem mündigen Menschen zuzumuten, eigenständig zu werden. Aber das gelingt nur in einem langsamen schrittweisen Entwicklungsprozess aus der Stabilität der Kindheit heraus. Das vorzeitig aus der seelisch-ätherischen Obhut entlassene Kind erleidet nur Rückschläge auf dem Weg zur Freiheit hin.

Gerade wer an den kleinen Kindern dran ist, erlebt, dass es Fakt ist, dass sie gestresst sind, wenn ihnen, statt des gewünschten Zusammenbleibens mit den Eltern, der Schichtplan einer Institution die Betreuungspersonen wechselnd zuschickt und wieder weg nimmt. Allen Schönrednern zum Trotz: Die erzwungene Anpassung hinterlässt im Leib der Kinder erhöhte allergische Dispositionen und in der Seele eine oft aggressiv überspielte Grundängstlichkeit, die sich im späteren Alter als Abneigung vor Veränderungen zeigt. Das wird von immer mehr erfahrenen Pädagogen geschildert und das zeigen Forschungsergebnisse und meine eigenen Beobachtungen als jemand, der beruflich sehr viele Waldorf-Kindergarten-, Krabbel- und Krippengruppen als Praxisbetreuer besucht hat. Die Kinder sehnen sich nach der Verlässlichkeit, vollumfänglich aufgenommen und nicht bloß zeitlich begrenzt betreut zu werden. Man muss den Eltern helfen, die Chance ihrer einzigartigen Möglichkeit zu sehen und zu erfüllen, statt ihnen schon die ganz kleinen Kinder aus dem Arm zu nehmen und so zu tun, als könne das der Normalfall für alle werden.

Zum Beitrag »Waldorfpädagogik ist für alle da« von Philipp Gelitz.