Warum scheitert und wie gelingt »Selbstverwaltung«?

Karl-Dieter Bodack

Nach verheißungsvollen Anfängen kommt es im Lauf der Zeit zu Machtkonzentration, Streit und Konflikt, qualifizierte Mitarbeiter werden ausgegrenzt oder entlassen; es entstehen finanzielle Engpässe mit der Folge geringer Gehälter. Viele Symptome lassen erkennen, dass »Selbstverwaltung«, so wie sie praktiziert wird, zu sozialer Unzuträglichkeit, ja zu Unmenschlichkeit führen kann. Sie zeigt sich zum Beispiel auch in einer zu hohen Arbeitsbelastung, die dadurch entsteht, dass möglichst viele an möglichst allen Entscheidungen mitwirken sollen.

Auf solche negativen Erfahrungen folgt – scheinbar konsequent –, dass selbst anthroposophisch-orientierte Einrichtungen zuerst informelle, dann klassisch-hierarchische Strukturen ausbilden, in denen im Extremfall Eltern zu Eigentümern der Schule werden, indem sie einen »Aufsichtsrat« wählen, der dann Vorstände sucht, einstellt und kontrolliert – so wie es die Aktionäre von Großkonzernen machen. Die Mitarbeiter (Lehrer und Angestellte) bilden dann einen Betriebsrat, um sich gegen Entscheidungen der Vorstände zur Wehr setzen zu können. – Eine reale Wirklichkeit, obwohl die Schule als »eingetragener Verein« registriert ist.

Hinterfragt man solche Entwicklungen, werden sie von den Betroffenen als »zwangsläufig« beschrieben: In der klassischen Vereinsstruktur sahen sich die ehrenamtlichen Vorstände überfordert, immer weniger Mitglieder engagierten sich, eine »Professionalisierung« erschien daher unausweichlich. Ist »Selbstverwaltung« im heutigen komplizierten politischen, administrativen Umfeld überhaupt noch möglich und sinnvoll? Verbraucht sie nicht zu viele Kräfte? Schaffen zunehmende Individualisierung und Egoismen nicht immer neue Streitfelder, die die »Selbstverwaltung« ad absurdum führen? Durch welche sozialen Gestaltungen können die Auswirkungen der sogenannten antisozialen Kräfte beherrscht und die sozialen Kräfte gestärkt werden? – Davon hängt das Überleben der Selbstverwaltung, zuletzt sogar das Fortbestehen einer Einrichtung ab, benötigt sie doch für ihre qualifizierte Entwicklung die vielfältigen Fähigkeiten und das Engagement möglichst vieler Mitwirkender.

Scheitern wegen gesetzlicher Rahmenbedingungen?

Als unmittelbare Ursache für das Scheitern von Selbstverwaltungen kann das Vereins- und Genossenschaftsrecht, ja, das Rechtssystem insgesamt angesehen werden. Stets ist gefordert, dass die Mitglieder einen Vorstand wählen. Dies führt zur Teilung der Gemeinschaft in Verantwortliche und Mitglieder. Je qualifizierter die Vorstände sind oder erscheinen, umso passiver werden die Übrigen und erleben sich als Geführte, werden zu Fordernden oder auch Ausführenden. Damit kommen antisoziale Kräfte ins Spiel: Die tüchtigen Vorstände erwarten Anerkennung, entwickeln Geltungsstreben und heben sich damit aus dem gemeinschaftlichen Wirken ab. Kommen dann noch Wünsche nach besserer Ausstattung und höherem Gehalt hinzu, entstehen zusätzliche egoistische Bestrebungen. Wirken Geltungs- und Besitzstreben zusammen, entsteht Machtstreben, im Extremfall sogar Machtsucht. Gewiss werden aufmerksame Menschen dies wahrnehmen und versuchen, solche Entgleisungen zu verhindern. Trotzdem zeigen sich solche Entwicklungen auch in gemeinnützigen Einrichtungen, wenn Mitglieder und Mitarbeiter ausgegrenzt, ausgeschlossen oder entlassen werden. Die Ursachen müssen zunächst in der »Zweiteilung« der Verantwortung gesehen werden. Auf der einen Seite stehen Menschen, die aus eigenen Intentionen etwas unternehmen wollen. Unter den üblichen Satzungsbedingungen können sie die Verantwortungsträger um Erlaubnis bitten, dieses oder jenes tun zu dürfen. Da die Vorstände jedoch »verantwortlich« sind und bleiben, wird jede Erlaubnis zu einer »Duldung« mit Grenzen, wenn sie nicht ganz und gar versagt wird. Die Folgen sind vielerorts wahrzunehmen: Initiative Mitglieder ziehen sich mehr und mehr zurück, da sie ihre Intentionen nicht oder nur partiell verwirklichen können. Damit stehen übliche Vereinssatzungen konträr zur intendierten Selbstverwaltung, die jedem Mitwirkenden Initiative und Verantwortung zukommen lassen soll, damit der Einrichtung möglichst viele Kompetenzen zugute kommen können.

Alternative Verfassung für Selbstverwaltung

Brauchen wir andere gesetzliche Grundlagen für die Bildung von Einrichtungen mit Selbstverwaltung? Offensichtlich! Stammt doch das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) aus kaiserlicher Zeit. Trotzdem gibt es Beispiele, bei denen es gelungen ist, im gegebenen Gesetzesrahmen zeitgemäße Statuten für eine nachhaltige Selbstverwaltung zu schaffen. Die Rudolf Steiner Schule Gröbenzell zum Beispiel nutzt den gegebenen Rahmen des Vereinsrechts extensiv, indem sie in der Satzung verankert hat, dass jedes Schul(vereins)mitglied aus eigener Initiative mitarbeiten und dabei eine entsprechende Verantwortung aus dem Vorstand übernehmen kann. Die entsprechenden Passagen der Vereinssatzung seien hier zitiert:

Arbeitskreise


1. Es können sich zur Erledigung einzelner Aufgaben, die sonst in die Zuständigkeit des Vorstands oder des Kollegiums fallen, Arbeitskreise [...] bilden. Diese dürfen aber keine Aufgaben übernehmen, für die nach den Bestimmungen dieser Satzung der Vorstand, das Kollegium oder ein anderes Organ ausschließlich zuständig ist.

2. Übernimmt ein Arbeitskreis eine Aufgabe, so erlischt damit die Zuständigkeit des Kollegiums bzw. des Vorstands für diese Aufgabe [...] Der Arbeitskreis wird für die von ihm übernommene Aufgabe voll eigenverantwortlich zuständig. [...]

3. Ein Arbeitskreis kann nur entstehen, wenn ihm mindestens drei Vereinsmitglieder angehören. Der Arbeitskreis kann auch nicht dem Verein angehörende Gäste als Mitglieder aufnehmen. [...]

4. Die Entstehung eines Arbeitskreises ist frei. Für die Arbeit des Arbeitskreises gilt Folgendes:

  • Der entstandene Arbeitskreis hat seine Entstehung mit   der Beschreibung seiner Aufgaben den anderen Organen [...] anzuzeigen,
  • hat über seine Arbeit und Vorhaben laufend dem Vorstand und der Verwaltung, mindestens einmal vierteljährlich, und soweit Zuständigkeitsbereiche anderer Organe berührt werden, auch diesen zu berichten,
  • kann seine Vorhaben der Zustimmungspflicht anderer Organe unterwerfen, z.B. des Vorstands oder der Mitgliederversammlung. Er muss das den Organen gegenüber tun, deren Zuständigkeitsbereiche von seiner Tätigkeit berührt werden, […] Zur Wirksamkeit müssen Vorhabenbeschlüsse schriftlich vom Arbeitskreis festgehalten und vereinsintern in allgemein zugänglicher Form veröffentlicht werden [... ].

5. Die Arbeitskreismitglieder haften vereinsintern für Schäden aus ihrer Arbeit, auch wenn mehrere Arbeitskreise die Arbeit betreut und ins Werk gesetzt haben, in gleicher Weise wie Vorstandsmitglieder [...] Oberstufenschüler können einen Arbeitskreis nach §13 der Satzung für die Schüler-Selbstverwaltungsaufgaben bilden. […]

Schulforum

Das Schulforum kann anlassbezogen oder auf Initiative des für die Organisation zuständigen Vereinsorgans einberufen werden. Es dient der gegenseitigen Wahrnehmung, dem Gespräch im Verein, der Einbringung von Wünschen und Anregungen und der Vertiefung übergreifender Themen. Organe können darin über laufende Vorhaben berichten. [...]

In der Gröbenzeller Schule gibt es Arbeitskreise für die Schulfinanzplanung und Verfolgung der Geldströme, Schulbeiträge (jedes Elternhaus ist frei, sie individuell festzulegen), Bauinstandhaltung, Neubau einer Turn­halle, Mediennutzung im Schulgeschehen, Öffentlichkeits­arbeit, UNESCO-Arbeit, Akquisition von Mitteln Dritter, Märkte, Schulzirkus, Elternfortbildung, Anthroposophie. Die Schule ist mit etwa 440 Schülern in 14 Klassen voll belegt und bietet in einer gerechten Struktur Gehälter, die den hohen Lebenshaltungskosten der Region München angemessen sind. Alle Mitarbeiter sind seitens der Schule mit einem speziellen Vertrag haftpflichtversichert. Das Verzeichnis der entscheidungsbefugten Kreise weist über mehr als hundert Namen auf: Hier ist eine über Jahrzehnte währende lebendige Mitarbeit vieler Eltern und Schüler erlebbar. Im Vergleich zu Nachbarschulen benötigt die Schule um etwa ein Drittel niedrigere Schulbeiträge.

Eine solche soziale Struktur macht aus passiven Mitgliedern »tätig sein könnende«. Erkennen einige, dass es ungelöste Probleme gibt, dass Vorstände für ein Arbeitsfeld nicht voll qualifiziert sind oder aus egozentrischer Haltung agieren, gründen sie einen satzungsgemäßen Arbeitskreis. Sie entbinden damit die Vorstände von bestimmten Aufgaben und übernehmen ein Arbeitsfeld zur selbstständigen Gestaltung. Stellt ein Kreis seine Arbeit ein, fällt dessen Arbeitsfeld an den Vorstand zurück. Falls darüber ein Konflikt entsteht, entscheidet ein Schiedsgericht in einem satzungsgemäßen Verfahren; das geschah in der genannten Schule nur einmal in 35 Jahren.

Mit einer solchen Verfassung entstehen nicht nur Initiativkräfte, es werden darüber hinaus auch Selbstheilungskräfte geweckt. Dies erscheint notwendig, weil im Arbeitsgeschehen Fehler bei Entscheidungen und Verletzungen von Mitstreitern vorkommen. Das Erlebnis und die Einsicht, dass jeder in seinen Aktivitäten Fehler machen kann, fördert die Fehlerkultur. Damit werden Schuldzuweisungen entkräftet, die das Engagement lähmen. Wer in vielfältigen Dialogen und Abstimmungen auch einmal einen anderen verletzt, entwickelt die Fähigkeit des Verzeihens. Kritik an Handlungen Anderer wird moderat: Ist doch jeder eingeladen, ja aufgefordert, sich selbst zu engagieren, um Einrichtungen und Arbeitsweisen zu verbessern. Besserwissertum wird absurd, wenn jeder weiß, dass er seine Intentionen selbst realisieren kann. Dies zeigt sich auch darin, dass die neu hinzugekommenen Eltern und Lehrer aktuell die bewährte Sozialstruktur in Gesprächsrunden weiter entwickeln. Die Erfahrungen zeigen, dass mit einer solchen Organisationsstruktur und den damit veranlagten Arbeitsweisen die »antisozialen«, gemeinschaftszerstörenden Kräfte in Grenzen gehalten werden können und viele aufbauende Kräfte und Fähigkeiten in das Gemeinschaftsleben einfließen: Sie zeigen, dass erfolgreiche Selbstverwaltung aus anthroposophischen Intentionen nachhaltig lebensfördernde Arbeitswelten schaffen kann – auch im Rahmen aktueller Gesetze.

Literatur:

R. Steiner: Die Kernpunkte der sozialen Frage, Dornach 1980 | R. Steiner: Das Mysterium des Bösen. Themen aus dem Gesamtwerk, hrsg. v. M. Kalisch, Bd. 19, Stuttgart 1999 | K.-D. Bodack: Sich selbst entdecken – Andere verstehen. Schritte zu Selbstentwicklung und erfolgreicher Zusammenarbeit, Aachen 2017 | K.-D. Bodack: Ein Leben mit Spuren – Als Anthroposoph bei der Deutschen Bahn, Frankfurt 2019; darin sind die Gründung und der Aufbau der Rudolf Steiner-Schule Gröbenzell sowie die geisteswissenschaftlichen Grundlagen der Selbstverwaltung dargestellt.

Zum Autor: Prof. Dipl.-Ing. Karl-Dieter Bodack, Berufsausbildung in der Hibernia Lehrwerkstatt, Studium Maschinenbau und sozialwissenschaftliche Gebiete in Stuttgart und Berkeley (USA), viele Jahre in Stabs- und Führungspositionen bei der Deutschen Bahn AG; Gründung einer GmbH aus einem Bahnwerk, Aufbau eines integrativen Studiengangs an der Hochschule Coburg, Aufsichtsrat der Stuttgarter Netz AG, selbstständiger Berater für Einrichtungen und Unternehmen.