Wie heilsam ist die Waldorfpädagogik?

Thomas Marti

Ich teile Rohdes Ansicht, dass Steiners Erfolgskriterien nicht ohne Weiteres zu überprüfen sind, nicht nur wegen der biographischen Dimensionen von gesundheitlichen Langzeitwirkungen, sondern auch deshalb, weil Gesundheit per se statistisch nicht zu fassen ist. Anders als Krankheiten, die über klinische Symptome oder physiologische Standards definierbar sind und einen Patienten zum entpersonalisierten »Fall« machen, ist Gesundheit so einzigartig und vielfältig wie die Individualität eines Menschen. Es gehört zu den zentralen Erkenntnissen der Salutogenese, dass das Auftreten oder das Fehlen von Krankheitssymptomen im Grunde noch überhaupt nichts aussagt über die Gesundheit eines Menschen.

Dennoch ist es berechtigt zu fragen, ob und inwieweit Steiners gesundheitsfördernde pädagogische Anliegen verwirklicht werden, wozu notwendigerweise auch empirische Forschung betrieben werden muss. Gesundheit und Krankheit sind nicht nur ein individuelles biographisches Thema, sie sind auch gesellschaftlich relevant und von größter Bedeutung für das Kulturleben des Menschen. Eine gesunde leiblich-seelisch-geistige Entwicklung stellt deshalb ein vorrangiges pädagogisches Anliegen dar. Bis heute ist aber die Gesundheit fast ausschließlich von sozial- und präventivmedizinischem Interesse. In die Erziehungswissenschaften dagegen hat die Gesundheit als pädagogischer Begriff noch kaum Einzug gehalten. Deshalb muss Steiners Anliegen, die pädagogischen Aufgaben und ihre methodisch-didaktische Umsetzung auch unter medizinischen Gesichtspunkten anzugehen, als eine herausragende Pionierleistung aufgefasst werden. Diese ist heute noch aktueller als zu Steiners Zeiten.

Rohde zieht für die relativ ernüchternden Ergebnisse der Fischer-Studie zwei mögliche Gründe in Betracht: Es sei denkbar, dass die Studie wegen ihres explorativen Charakters die gesundheitlichen Verhältnisse in allen ihren relevanten Aspekten zuwenig differenziert in den Blick bekomme, weil sie beispielsweise ein zu statisches Bild zeige und aus methodischen Gründen den dynamischen Charakter von individueller Gesundheit gar nicht erfassen kann. Weiter sei denkbar, so Rohde, dass die Studienergebnisse tatsächlich zuträfen und ehemalige Waldorfschüler nicht wesentlich gesünder seien als Nicht-Waldorfschüler, was die Frage aufwürfe, ob »in den Waldorfschulen […] gründlich genug nach Steiners Ratschlägen unterrichtet wird«.

Der erste in Erwägung gezogene Grund ist wissenschaftlich durch weitere Studien zu klären. Der zweite Grund dagegen ist vor allem für die Schulpraxis interessant, weil er eine Reihe von spannenden Folgefragen aufwirft: Sind die Waldorflehrer durch ihre Aus- und Fortbildung in der Lage, die gesundheitlichen Wirkungen ihres Unterrichts auf die Schüler­innen und Schüler zu erkennen und ihre Methodik gegebenenfalls zu korrigieren oder weiter zu entwickeln? Was sind für Fähigkeiten notwendig, damit jedes Erziehen auch ein Heilen wird, wie dies Steiner forderte, und zwar bis in die leiblichen Prozesse hinein? Wird in den Kollegien ausreichend an den menschenkundlichen Grundlagen gearbeitet, so dass mindestens eine Sensibilität für gesundheitliche Fragen aufkommen kann?

Rhythmus: das Heilmittel schlechthin

Durch die rhythmologische Forschung der vergangenen Jahrzehnte ist inzwischen deutlich erkennbar, dass die Forderung Steiners von herausragender, gesundheitlicher Bedeutung ist. Ab ungefähr dem 5./6. bis etwa zum 14./15. Lebensjahr, also im Wesentlichen während der Klassenlehrerzeit, hat das Rhythmische System des Menschen seine entscheidende Entwicklungs- und Reifungszeit und führt dann zur erwachsenen Leistungsfähigkeit. Ungefähr in der Mitte dieser Zeitspanne, also um das 7. bis 9. Lebensjahr, zeigt die Entwicklung der Herzrhythmik gewisse Unregelmäßigkeiten, was auf eine besondere Sensibilität dieses Organsystems hinweisen könnte. Deshalb ist auch zu erwarten, dass alles, was die Kinder in all diesen Jahren lernen, besonders aber wie sie lernen, tief in die physiologischen Verhältnisse der Atem- und Kreislauforganisation hineinwirkt und hier gesundheitsrelevante Folgen haben kann. Der Rhythmus ist deshalb das methodisch-didaktische Heilmittel schlechthin, mit dessen Hilfe den kränkenden Einflüssen der Gegenwartszivilisation und ihrer Hektik, Atemlosigkeit und ihren einseitigen Leistungserwartungen gesundend entgegengewirkt werden kann.

Mehr rhythmologische Forschungen nötig

Leider gibt es bisher so gut wie keine Untersuchungen zur rhythmologischen Entwicklung von Kindern im pädagogischen Kontext. Das ist umso bedauerlicher, als die bisherigen Erkenntnisse aus der rhythmologischen Forschung an Erwachsenen zum Beispiel bei künstlerischen Tätigkeiten oder unter diversen mentalen Aktivitäten erwarten lassen, dass entsprechende Untersuchungen an Schulkindern aufschlussreiche Einblicke in die Wirksamkeit von methodisch-didaktischen Maßnahmen vermitteln könnten. Das Grundlagenwissen sowie das wissenschaftliche Instrumentarium für Untersuchungen der simultanen oder immediaten Wirksamkeit bestimmter Tätigkeiten auf die Dynamik und Energetik der Herztätigkeit ist vorhanden und einsatzbereit, doch konnte es bis heute leider kaum fruchtbringend eingesetzt werden. Die Hürden, um als Externer mit rhythmologischen Studienvorhaben an Waldorfschulen Aufnahme, Interesse und aktive Unterstützung zu finden, sind nach meiner Erfahrung aus den vergangenen acht Jahren bemerkenswert hoch.

Meines Erachtens ist das menschenkundliche Potenzial für rhythmologische Fragen in der Waldorfpädagogik aber einzigartig und könnte, forschend und in der pädagogischen Praxis umgesetzt und weiter entwickelt, der Schulbewegung bedeutende Impulse vermitteln.

Zum Autor: Thomas Marti ist Dozent für Biologie und Anthropologie an der Akademie für Waldorfpädagogik Mannheim und lebt in Hamburg. – Kontakt über projektart@gmail.com.

Literatur und weitere Informationen zu den Forschungsprojekten finden sie unter www.projektart-berne.de