Erziehungskunst | In welcher Situation befindet sich der Bund der Freien Waldorfschulen aktuell?
Hans Hutzel | Ich sage mal so: Es war schon angenehmer, den BdFWS nach außen zu vertreten. Wir haben im Moment aber auch die Chance, dass wir auf schwierige Punkte schauen. Sowas brauchen Organisationen und Systeme manchmal, wenn sie sich zu sehr auf sich selbst eingespielt haben. Es werden teilweise auch wichtige Fragen an die Waldorfpädagogik, an die Schulen, an die Menschen und auch an die Grundlagen gestellt. Andererseits nehme ich wahr: Es übertreiben manche Journalist:innen, sie kühlen ihr Mütchen an uns und befeuern sehr erregte Debatten mit herausposaunten Vorurteilen, die man nicht wiederholen und nicht bekräftigen muss. Wie man damit umgeht, ist für mich immer noch eine offene Frage. Es gibt leider in unserer Community jedoch Personen, die sich so verhalten, dass sie zu leicht Angriffspunkte bieten und zum Anlass werden, wirklich schrille Geschichten aus Waldorfschulen erzählen zu können. Wenn man die beiden Extreme, die ungehemmten Journalist:innen und die Menschen bei uns, die sich sonderbar verhalten, außen vorlässt, dann sehe ich, dass wir da in einen wichtigen Dialog und eine gemeinsame Suche eintreten können. Zum Beispiel zu Fragen der Wissenschaftlichkeit, zu Fragen des demokratischen Miteinander, zu Vereinbarungen und Verbindlichkeit und zu der Verantwortung, die wir in der Gesellschaft als Schule haben. Klar ist: wir sind kein rechtsfreier Raum, wir sind Teil des demokratisch legitimierten Rechtssystems, und müssen uns dementsprechend auch verhalten. Also an die Regeln halten.
Nele Auschra | Es gibt eine Außen- und eine Innensicht der Situation. Ich selbst arbeite im Moment an der medialen Außensicht, und da vertrete ich, dass sich der Großteil der Schulen im Bund regelkonform verhält. So ist es auch; aber natürlich ist uns auch bewusst, dass es Schulen gibt, wo es eben nicht so läuft. Wir befinden uns da in einem Spagat. Auch die Außensicht auf den BdFWS ist zweigeteilt. Wir haben zum einen eine überregionale Sicht, geprägt durch die Journalist:innen, die gerne voneinander abschreiben, uns pauschal Verhaltensweisen wie eine angeblich anthroposophisch begründete Maßnahme- und Impfverweigerung zuschreiben. Dagegen müssen wir uns zur Wehr setzen! Aber wir haben gleichzeitig die regionale Berichterstattung über Situationen in einzelnen Schulen, die ganz real sind und die aufzeigen, dass nicht alle Schulen sich so verhalten, wie wir als BdFWS es nach außen tragen. Jede einzelne Schule, jeder einzelne Mensch trägt das Bild der Waldorfschulen in der Öffentlichkeit mit. Und es gibt ein Ziel für alle: Es ist für uns wichtig, dass wir den Schulen ermöglichen, guten Unterricht zu machen, damit die Schüler:innen bei uns einen geschützten Lernort vorfinden. Und dass man individuelle Vorstellungen zur aktuellen Situation im Schulbetrieb selbst hintanstellen muss.
EK | In welchem Verhältnis stehen die Waldorfschulen zur Anthroposophie?
HH | Das ist ein Spannungsverhältnis und das ist nie eindeutig zu beantworten. Wenn es eindeutig zu beantworten wäre, dann wären alle Lehrer:innen Anthroposoph:innen und alle Eltern auch. Aber das ist nicht so und ich wollte das auch nicht, aber es ist gut, dass die Menschen, die bei uns arbeiten, eine Offenheit und ein Interesse an Anthroposophie mitbringen. Die Anthroposophie bleibt in der Schule eher im Hintergrund, sie ist kein Unterrichtsthema. Das heißt natürlich nicht, dass ich das verheimliche, wenn Schüler:innen danach
fragen. Es gibt auch keinen geheimen Lehrplan, kein Geheimwissen im Hintergrund. Die Anthroposophie ist für mich eine Diskussionsgrundlage, im besten, weitreichenden Sinne eine Arbeitshypothese, um der Individualität nahezukommen und die Entwicklung von Individualität zu fördern. Über diesen Zugang haben wir einen Begriff vom Individuum: Es ist nicht nur abhängig von biologischem, materialistischem Milieu und sozialen Begebenheiten usw., sondern es existiert immer etwas Eigenes, das wir als Arbeitshypothese da mit rein denken. Dadurch wird es respektvoll gegenüber den jungen Menschen. Sie interessieren uns und dadurch gehen wir auch in Beziehung. Da hilft uns der anthroposophische Ansatz. An der Waldorfpädagogik schätze ich, dass sie aufgrund des Erkenntniswegs der Anthroposophie immer wieder die Frage stellt: »Was ist der Mensch?«. Anthroposophie muss lebendig bleiben und darf nicht zu einem Bündel von Dogmen, Vorgaben oder gar einer reinen Zitatensammlung verkommen. Dazu gibt es manchmal eine Tendenz, gegen die wir uns wehren müssen. Und der letzte Punkt: Für mich ergibt sich aus der Anthroposophie, was Schule geben muss, nämlich Wissenschaft, Religion und Kunst zusammen. Das ist der Dreiklang anthroposophischer Erkenntniswege. Wenn das in der Schule wirkt, dann wird sie gut.
NA | Rudolf Steiner, der die Anthroposophie entwickelt hat, war der Impulsgeber für die Schulen. Dahinter steht nicht nur die Entwicklung einer Pädagogik, die sich an der Individualität des Kindes orientiert, sondern auch eine starke gesellschaftspolitische Dimension, die damals virulent war: die Lösung der sozialen Frage und in dem Zusammenhang das praktische Ausprobieren des Modells der sozialen Dreigliederung am Beispiel von Bildungseinrichtungen, die im freien Geistesleben angesiedelt sind.
Mir ist wichtig, dass die Anthroposophie ein Entwicklungsweg gesehen wird. Erziehung ist eben auch Selbsterziehung. An sich selbst zu arbeiten – das merken wir ja auch im alltäglichen Leben –, wird immer den Menschen weiterentwickeln, und in der Pädagogik kommt es erst recht auf diese Haltung an. Ich denke nicht, dass dazu alle Lehrer:innen an unseren Schulen Anthroposoph:innen sein müssen, aber ich glaube, dass es für alle wichtig ist, sich mit diesen Grundlagen der Waldorfpädagogik im Laufe ihrer Lehrer:innenbildung beschäftigt zu haben. Die Anthroposophie stellt einen Schatz dar, aus dem die Pädagog:innen schöpfen können. Sie müssen es nicht, die Waldorfpädagogik bietet auch schlicht eine Fülle an erprobten Methoden. Aber nur darauf aufzubauen, finde ich für die Arbeit an einer Waldorfschule ein bisschen zu wenig.
EK | Was bedeutet »frei« (freies Geistesleben, freie Waldorfschulen) im Kontext der Waldorfpädagogik?
NA | »Freie Schulen« haben die Möglichkeit, nach eigenem Lehrplan zu lehren. Wir bieten am Ende alle staatlichen Abschlüsse. Aber wie wir die Schüler:innen darauf vorbereiten, und was wir in welchen Altersstufen wie vermitteln, das können die Schulen frei bestimmen. Diese Freiheit ist ein hohes Gut.
Aber »frei« bedeutet nicht, dass wir auch in anderen Bereichen frei agieren. Der Staat hat die Rechtsaufsicht über unsere Schulen. Und im Rechtsleben sind wir gleich wie alle anderen Schulen. Ich glaube, dass das eine Botschaft ist, die alle Schulen noch einmal in ihre Schulgemeinschaft tragen sollten. Viele Schwierigkeiten, die wir jetzt im Moment haben, fußen auf dem Problem, dass manche Menschen das verwechseln. Wir haben die Möglichkeit, die Schulen pädagogisch frei zu gestalten, aber es gibt im Rechtsbereich nichts zu diskutieren. Wo das verstanden wird, haben wir Schulen, in denen auch Schüler:innen mit Masken und Testung und Distanz- und Hybridunterricht gut betreut und beschult werden bzw. wurden, und wo sie einen geschützten Lern- und Lebensort vorfinden. Es gibt Menschen, die sagen, wir haben Waldorfschulen immer als ein gesellschaftliches Korrektiv angesehen. Aber das können wir und wollen wir nur sein auf dem Bildungssektor. Wir sind kein zivilgesellschaftliches Organ, das außerhalb des Bildungssektors aktiv wird. Und das verzeihen uns manche nicht.
HH | Es gibt eine Freiheit im Inhaltlichen, aber wir sind eingebunden in ein demokratisch legitimiertes System von Schule und Schullandschaft überhaupt. Freiheit muss immer mit Verantwortung gekoppelt sein und darf nicht in Willkür umschlagen!
EK | Wie begegnen Sie den Vorwürfen, die in den vergangenen Wochen und Monaten den Waldorfschulen, der Anthroposophie, den Demeter-Landwirten, etc. vorgehalten wurden?
NA | Es gibt Vorwürfe, die sind einfach wahr. Es gibt Waldorfpädagog:innen, es gibt anthroposophische Ärzt:innen, es gibt Demeter-Landwirt:innen, die sich aus Naivität, Sendungsbewusstsein oder einer Geisteshaltung, die die Anthroposophie als eine Art Offenbarung und Steiner als einen Propheten betrachtet, die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie kritisieren, das Virus leugnen oder simplifizierende Erklärungen verkünden. In einer Gesellschaft, in der gerade darum gerungen wird, zu verstehen, was da passiert und bestmöglich damit umzugehen, kann so etwas nicht gut aufgenommen werden. Und aus solchen Einzelpersonen, Einzelmeinungen wurde ein pauschaler Vorwurf gegen »die Anthroposophen« als maßgeblichen Bestandteil der sog. Querdenker- und Impfverweigerungsszene erhoben, den wir nicht so einfach abwehren können. Das ist die Herausforderung, vor der wir gerade stehen.
HH | Wir müssen meiner Meinung nach eine Doppelstrategie fahren. Denn wir werden von außen teilweise mit kruden Vorwürfen belegt. Gegen die wehren wir uns. Da müssen wir auch sagen »bis hierhin und nicht weiter«. Alle gesellschaftlichen Gruppen müssen sich fragen, wo sie noch nicht sensibel genug für gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit sind. Dass Waldorfschulen rassistisch oder gar antisemitisch sind, ist einfach Quatsch. Wenn ich in die Schullandschaft schaue, dann sehe ich, wie viele tolle Projekte, die das Gegenteil zeigen, immer wieder von Lehrer:innen und Schüler:innen initiiert werden.
Wir müssen uns auch nach innen schützen. Und das kann im äußersten Fall bedeuten, dass eine einzelne Waldorfschule nicht mehr zu uns passt und aus dem Bund der Freien Waldorfschule austritt oder wir sagen, hier ist Schluss und wir leiten das Ausschlussverfahren ein.
Ich wehre mich dagegen, dass der wichtige Begriff der Meinungsfreiheit okkupiert wird von Menschen, die jedwede Meinung als Wahrheit postulieren und einfordern: »Das darf man doch wohl noch sagen«. Nein, das darf man eben nicht sagen, weil es jenseits des demokratischen Spektrums ist! Antisemitismus ist für mich so eine rote Linie.
EK | Welche Chancen birgt die aktuelle Situation?
NA | Corona hat uns ganz deutlich die Schwächen offenbart, die es in Schulen geben kann. Etwa in der Schulstruktur: Wenn niemand in einem demokratischen Prozess innerhalb der Schulgemeinschaft legitimiert wurde, die Schule zu leiten, dann kommt man in solchen Situationen in Teufels Küche. Und genauso ist es schwierig, wenn sich die Schule über ihre pädagogischen Qualitäten keinen ausreichenden Überblick verschafft hat. Denn so kann es zu Aussagen kommen wie: »Wenn ich keinen Präsenzunterricht machen kann, kann ich keinen Waldorfunterricht machen«. Also die Behauptung, dass Waldorfpädagogik nicht digital zu vermitteln sei, ist das größte Armutszeugnis, was von einigen Pädagog:innen an einigen Schulen vertreten wurde. Da haben wir dann sofort versucht, mit Angeboten wie zum Beispiel #waldorflernt, das Spektrum zu erweitern und zu zeigen, wo und wie überall Waldorfpädagogik möglich ist.
HH | Wir wurden von außen angestoßen, uns mit den grundlegenden Gedanken unserer Pädagogik zu beschäftigen. Selten wurden die Aussagen Rudolf Steiners so intensiv diskutiert wie jetzt. Das finde ich sehr gut. Es gibt manches, was wir entstauben und abklopfen müssen, ob und wie weit das noch für uns gilt. Gleichzeitig können wir dabei Schätze heben. Und die Fragen von außen, auch wenn sie heftig formuliert sind, verstehe ich als Aufforderung »erklärt uns doch mal, was ihr da macht an den Waldorfschulen!« Wir sollen uns nicht abkapseln, sondern in einer Sprache, die alle verstehen, erzählen, was und wie wir arbeiten. Und ich denke, da tun wir uns noch etwas schwer. Ich habe manchmal das Gefühl, dass es für uns wichtig ist, zu erkennen, dass Anthroposophie nicht nur etwas für Anthroposophen ist. Wir müssen ihre Inhalte mit anderen Menschen diskutieren kann. Da sehe ich eine große Chance.
NA | Ich glaube, dass fast jede Schule in dieser Zeit Schätze gehoben hat. Im Umgang miteinander, mit den Schüler:innen, in Lernstoffen, die neu entwickelt wurden. Und das hat zu einem neuen Selbstbewusstsein geführt, mit dem jetzt alle deutlich bestimmter nach außen auftreten könnten. Wir können stolz darauf sein, was an Neuem entstanden ist und müssen uns überhaupt nicht verstecken.
Die Fragen stellte Angelika Lonnemann
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