Nun bin ich selbst Mutter zweier Söhne. Der erste ist bereits in einer großen Waldorfschule fest verankert, der zweite, ein mehr feinfühliger und sensibler Junge, steht vor der Einschulung. Da ich als Mutter die Praxis zur Feststellung der Schulreife an der Waldorfschule miterlebt habe und wiederholt am großen Einschulungstag anderer Kinder dabei war, stehe ich immer wieder vor Fragen, auf die ich bisher keine Antworten gefunden habe.
Zu meiner Zeit gab es noch keine sogenannte pädagogische Aufnahme. Diese verläuft heute an unserer Schule an einem Vormittag über eineinhalb Stunden mit einer kleinen Pause zwischendrin. Bei meinem ersten Sohn verlief die Aufnahme ohne nennenswerte Ereignisse, sodass ich nicht wirklich wusste, was während dieser Zeit passiert. Mein zweiter Sohn weigerte sich jedoch unter Tränen das Klassenzimmer allein zu betreten und so erhielt ich die Möglichkeit, einen Teil dieses Unterrichts mitzuerleben.
Etwa 20 Kinder saßen in »Stuhl-Tisch-Front«-Formation. Sechs erwachsene »Beobachter« hatten an den Seiten Platz genommen. Vorne stand ein Lehrer, der mit dem Unterrichten begann. Die Situation wirkte sehr künstlich, und ich fragte mich, was damit beabsichtigt war und was geprüft und beobachtet werden sollte. Ich konnte der Situation entnehmen, dass es darum ging, die Kinder den Beobachtern »vorzuführen« – eine Vorgehensweise, die ich eigentlich nicht mit meiner Vorstellung von Waldorfpädagogik in Einklang bringen kann, einer Pädagogik, die damit wirbt, vom Kind auszugehen und jedes in seiner Geschwindigkeit reifen zu lassen. Dient die sogenannte »Schulstunde« dazu, Kinder zurückzustellen, auszusieben, die zukünftige Klasse sinnvoll zusammenzusetzen? Die Gründe sind mir nicht ersichtlich geworden.
Nach etwa 20 Minuten kam einer der Beobachter auf mich zu und bat mich, meinen Sohn nochmals aufzufordern, sich auf seinen Platz zu setzen, wenn nicht, sollten wir den Raum verlassen. Mein Sohn wollte nicht. Wir verließen den Raum.
Sicherlich gibt es Kinder, die diese Schwelle mit Bravour meistern, aber es gibt auch solche, die sich einer neuen Situation mit kleinen Schritten nähern und sich über Beziehungen und Inhalte vertraut machen. Wird wirklich »Schulreife« geprüft? Wenn ja, lässt sich diese nicht auch auf einem anderen Weg feststellen? Warum müssen die Kinder Gefahr laufen, schon hier die vertrauensvolle Beziehung zur Schule zu verlieren?
Diese Frage taucht auch immer wieder beim großen Einschulungstag auf. An vielen Waldorfschulen ist es üblich, die neuen Erstklässler vor versammelter Schulgemeinschaft einzeln mit ihrem Namen auf die Bühne zu rufen. Vielen gelingt der Gang auf die Bühne gut und wenigen nur unter Tränen, mit Hilfe der Eltern oder gar nicht. Ich als Zuschauer habe dabei immer ein beklemmendes Gefühl und wünsche mir, das Kind würde nicht in so eine Situation gestellt, schon gar nicht, wenn es um seinen ersten Schultag geht. Ich habe schon erlebt, dass ein nasser Fleck auf dem Boden der Bühne zurückblieb.
Ich wünsche mir, dass der Weg in die Schule auch für Kinder mit »kleinen Schritten« so geebnet wird, dass die meist vorhandene große Freude gefördert und nicht gebremst wird. Sollte diese Erstbegegnung nicht ohne Angst für alle Kinder vonstatten gehen? Ist dieses Einschulungskonzept in einer Zeit, in der der empathische Blick auf das einzelne individuelle Kind im Vordergrund stehen sollte, noch angebracht?
Mein Sohn hat zum Glück bei seinem zweiten Anlauf die pädagogische Aufnahme »bestanden« und konnte wieder eine positive Beziehung zur Schule aufbauen.
Zur Autorin: Judith Forbrich arbeitet freiberuflich als Kursleiterin für Kindertanz.