«Bist Du etwa Anthroposoph?», fragt mich mein Nachbar. In seinen Augen und rund um seine Mundwinkel nehme ich einen Hauch von Schadenfreude wahr. Meine Frau erzählt mir, dass sie beim Frühstück im Büro wieder von nervigen Kolleg:innen auf die Waldorfschule angesprochen wurde. Unsere Nachbarn, Freund:innen und Kolleg:innen wissen, dass unsere jüngste Tochter 13 Jahre lang die Waldorfschule besucht hat und dass ich für neun Jahre deren Verwaltung verantwortet habe. Die meist positiven Schilderungen der Schulzeit waren ihnen schon immer suspekt. Lernen kann doch keinen Spaß machen – hat es noch nie und wird es auch nie. Auf die Schule kann man sich doch nicht freuen! Seit sich mit Beginn der Pandemie 2020 die negativen Medienberichte mehren, fühlen sie sich in ihrer Skepsis gegenüber Waldorf bestätigt.
Die Medien posaunen es von den Dächern: Waldorfeltern sind Corona-Verharmloser:innen, nehmen Globuli, sind Russland-Versteher:innen, rechts, rassistisch, antisemitisch und sie schauen zu, wie ihre Kinder von unfähigen Pädagog:innen – so man sie überhaupt als solche bezeichnen kann – gedemütigt und indoktriniert werden. «Ex-Waldis» berichten. Ein wissenschaftlicher Diskurs finde nicht statt. Schlimmer geht es nicht. Die Vorwürfe sind unerträglich!
Habe ich das alles nicht gewusst? War die Entscheidung für Waldorf unverantwortlich? War alles nur ein Fake? War unsere Tochter gar nicht glücklich an der Schule? Hat sie nichts gelernt? Es kann nicht sein. «Selber denken macht schlau», prägte die Klassenlehrerin unserer Tochter ein, die heute Biologie studiert. Den Studienplatz hatte sie 24 Stunden nach Erhalt des Abiturzeugnisses. Sie ist meine schärfste Kritikerin, wenn es um Weltanschauung, ethische, soziologische und naturwissenschaftliche Fragen geht. Sie ist ein Menschen-Mensch, liebt die Gemeinschaft, geht in ihr auf, übernimmt Verantwortung und ruht zugleich ganz in sich.
Meine Bibliothek wuchs in den letzten 15 Waldorf-Jahren um zahlreiche Bücher aus den Bereichen Erziehungswissenschaft, Physik, Chemie, Biologie, Geografie, Geschichte, Informatik, Photographie und Journalismus. Nur zwei, drei stammen aus dem Waldorf-Umfeld. Stolz bin ich auf die vielfältige internationale Literatur. Mit Salman Rushdie verbindet mich unsere Suche nach Identität und unsere Weltanschauung. Die Schulzeit meiner jüngsten Tochter und die Begegnungen mit vielen Menschen in der Schule haben auch mich reifen lassen.
Ganz oben im Regal stehen Bücher aus dem Nachlass einer verstorbenen Freundin, sie war Schulleiterin eines Lübecker Gymnasiums und lehrte Physik und Mathematik. Eines beschreibt die Seelische Entwicklung des Kindes. Die meisten Bücher wurden Anfang der 60er Jahre verlegt und bezeugen die fortwährende wissenschaftliche Suche nach Wahrheit, die wir niemals finden, der wir aber mit der Zeit immer näherkommen.
Freiheit im Sinne von selbstständigem Denken öffnet uns den Zugang zur Wahrheit. Streit, Analysen und Diskussionen mit anderen Wahrheitssuchenden treiben uns voran, während wir uns von tradierten Denkweisen lösen und unsere eigenen Weltbilder schaffen.
Rudolf Steiner knüpfte mit seinen Worten an den Weltbildern seiner Rezipient:innen an und ermutigte sie zum ständigen Hinterfragen der Grundsätze von Lehrgebäuden. Nur so entfalteten seine Worte bei seinen Anhänger:innen ihre Wirkungen.
Das Gegenteil davon ist eine Lehre, die die unhinterfragbare Autorität einer geistigen Quelle für sich beansprucht. Sie verkommt zur Doktrin und lässt ihre Anhänger:innen erstarren.
Um Schriften von und über Rudolf Steiner zu verstehen, stelle ich sie in ihren geschichtlichen Kontext – eine Herangehensweise, die ich während meines kurzen Theologiestudiums in den 80er Jahren am katholischen Diakoneninstitut in Köln lernte. Alte Schriften entfalten ihre Bedeutung, wenn ich weiß, wer wem was, wann und warum sagen wollte.
Das gilt für Evangelien und Paulusbriefe wie für alle historischen Schriften und Vorträge. Ich verstehe weder die Evangelisten, noch Paulus, noch Buddha, Konfuzius oder Steiner, wenn ich deren Texte wörtlich nehme.
Überkommene Lehren lassen sich durch wissenschaftlich fundierte Theorien untermauern oder ersetzen, was den Fortbestand der Waldorfpädagogik und den Dialog mit der Erziehungswissenschaft sichert. Dabei denke ich zuerst an die Lehren der drei oder vier Leiber bzw. Wesenheiten, der vier Temperamente und der Jahrsiebte. Dass sich Waldorfpädagogik von ethisch verwerflichem Gedankengut befreit, sollte selbstverständlich sein. Das sind wir Rudolf Steiner, unseren Kindern und unserer demokratischen Gesellschaft schuldig.
Indem ich unsere Tochter an einer Waldorfschule anmeldete, ging es mir keineswegs um Erkenntnisse aus höheren Welten, sondern um ihre Zukunft. Ich will nicht, dass unsere Kinder danach bewertet werden, wie gut sie überkommene Weltbilder auswendig lernen. Ich will, dass sie Freude am Leben haben, neugierig sind, wissen, wie man streitet, logisch denkt und Gedanken klar und strukturiert formuliert. Das hat bei unserer Tochter wunderbar funktioniert und bei den allermeisten Schülerinnen und Schülern unserer Schule ebenfalls.
Deshalb will ich, dass die Idee Waldorf lebt und sich im wissenschaftlichen Diskurs behauptet und weiterentwickelt.
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