Wir gehören zu den Glücklichen, deren Kinder danach alle gesund wurden und, wie wir beobachtet zu haben glauben, dabei jeweils einen großen Entwicklungsschritt machten. Dafür hatten sie mindestens vier Wochen im Bett gelegen und blieben sechs Wochen zu Hause. Ich bin deshalb trotzdem kein Impfgegner, denn: Stellt sich diese Frage überhaupt noch – auch diesseits des so genannten Masernschutzgesetzes? Ist unsere Gesellschaft nicht längst schon so organisiert, dass Kinderkrankheiten, die länger als ein paar Tage dauern, gar nicht mehr eintreten dürfen, weil kaum noch jemand über Wochen zu Hause bei den Kindern bleiben kann – oder will? 2010 setzte sich der damalige SPD(!)-Vizekanzler Franz Müntefering für mehr KiTa-Plätze und einen besseren Zugang von Frauen zum Arbeitsmarkt ein. Dabei argumentierte er allerdings nicht etwa mit dem eigentlich selbstverständlich sein sollenden Recht von Frauen, sondern mit der notwendigen Produktivitätssteigerung unserer Wirtschaft. Zehn Jahre später gibt es nur noch sehr wenige Familien, die es sich überhaupt leisten können, dass ein Elternteil für längere Zeit zu Hause bleibt, sei es in den ersten Lebensjahren oder wenigstens bei einer länger andauernden Kinderkrankheit. Für alleinerziehende Mütter – es sind fast immer die Mütter – ist das noch viel schwerer zu organisieren. Die Impfdebatte ist eine Debatte für die Privilegierten, die diese Wahl – bisher – überhaupt noch haben. Kinder haben keine Wahl, sie sind abhängig von den Entscheidungen der Erwachsenen ...
... was mich zu den Schulen und Kindergärten bringt. Beide Einrichtungen leben von dem Vertrauen, das sich in konkreten zwischenmenschlichen Beziehungen zu den Kindern und ihren Eltern bilden kann, von der positiven Bestärkung und dem Gefordert-Werden der Kinder in einem geschützten Raum. Wenn ein Gesetz es Kindergärten verbietet, Kinder aufzunehmen, deren Immunität nicht nachgewiesen wird, wenn es die Schulen verpflichtet, Kinder ohne einen solchen Nachweis an die Behörden zu melden, wenn es Erziehern, Lehrern, Mitarbeitern und sogar den ehrenamtlich Tätigen verbietet, ohne Nachweis zu arbeiten und die Schul- oder KiTa-Leiter mit saftigen Bußgeldern bestraft, wenn sie ihren Prüf- und Meldepflichten nicht nachkommen, geht es nicht mehr nur ums Impfen, sondern um einen massiven staatlichen Eingriff in die Aufgaben von Bildungseinrichtungen. Aufklärung: Ja! Masernbekämpfung: Ja! Impfen zum Schutz vor lebensbedrohlichen Krankheiten: Ja!
Aber kein Gesetz darf Schulen oder Kindergärten zum verlängerten Arm der Exekutive machen, wenn wir noch einen Pfifferling darauf geben, dass wir unsere Gesellschaft »freiheitlich-demokratisch« nennen. Im Übrigen kann man in den Ländern, die bereits einen Impfzwang haben, eine Polarisierung der Positionen beobachten. Für die Beratung gibt es Ärzte, Herr Spahn!