Friedrich Oehlschlegel – ein Waldorflehrer der ersten Stunde

Tomás Zdrazil

»Plötzlich geht die Tür auf, alle Augen sind auf ihn gerichtet. Friedrich Oehlschlegel kommt herein.« Blauer Anzug, weißes Hemd, grüne Krawatte. »Durch eine goldgeränderte Brille schauen uns freundliche blaue Augen an.« Er begrüßte die Klasse mit amerikanischem Akzent: »Guten Morgen, liebe Kinder!« Gleich mit diesem ersten Satz hatte er die Herzen seiner Schüler gewonnen. Oehlschlegel setzte auf das Motiv des »Weltinteresses« und unterrichtete unkonventionell die ersten Monate nahezu ausschließlich Geographie. Er war trotz seines jungen Alters – er war 28 Jahre alt – schon viel in der Welt herumgekommen. Fritz Koegel, ein Schüler und späterer Waldorflehrer, war sehr beeindruckt von ihm: »Ganz still wurde es, wenn er von Fahrten nach Archangelsk oder zum Aralsee berichtete.«

Oehlschlegel hatte einen deutschen Vater und eine amerikanische Mutter, war in den USA aufgewachsen und hatte dort auch einige Zeit als Lehrer gearbeitet. Dann kam der Erste Weltkrieg, er beschloss, auf deutscher Seite zu kämpfen. Er wurde verwundet, im Lazarett lernte er durch eine Pflegerin die Anthroposophie kennen. Nach dem Krieg arbeitete er als Lektor für englische Sprache an der Universität Marburg. Mit seinen Studenten las er die »Kernpunkte der sozialen Frage« von Rudolf Steiner. Er kam in Kontakt mit der Marburger Ortsgruppe des Bundes für soziale Dreigliederung, mit Emil Molt und dessen Plan der Stuttgarter Schulgründung. Molt war von Oehlschlegel so fasziniert, dass er Steiner vorschlug, ihn zum Lehrerkurs einzuladen. Dort freundete er sich rasch mit Herbert Hahn und Walter Johannes Stein an. Mehrmals wurde man während des Lehrerkurses auf Oehlschlegel aufmerksam: bei seinen Schilderungen des Mississippi oder bei der Einführung des Bruchrechnens.

Außer der Klassenführung und Englisch sollte Oehlschlegel die verantwortungsvolle Aufgabe übernehmen, mit Herbert Hahn den vollkommen neuen, sogenannten freien Religionsunterricht für die Kinder konfessionsloser Familien, einschließlich einer Sonntagshandlung einzuführen. Doch bevor es dazu kam, verließ er überraschend die Schule. Seine Klasse blieb vakant, außer Emil Molt war niemand über seine Absichten informiert.

Oehlschlegel kehrte in die USA zurück, um dort finanzielle Unterstützung für die Dreigliederungsbewegung und die Waldorfschule, einschließlich einer »Waldorf-Hochschule« zu suchen. Der Briefwechsel dokumentiert trotz der anfänglich großen Verbundenheit mit der Waldorfschule eine zunehmende Entfremdung. Der Kontakt zur Schule brach ab.

Als sich Oehlschlegel schließlich Mitte 1921 aus Honolulu wieder meldete, teilt die Schule dem Oberschulrat in Stuttgart mit, dass Oehlschlegel »seinen Urlaub eigenmächtig überschritten und uns fast ein Jahr lang ohne Nachricht gelassen hat« und deswegen kein Lehrer an der Freien Waldorfschule mehr sei. – Über den weiteren Weg dieses Waldorflehrers der »ersten Stunde« ist nichts mehr bekannt, so dass mit seinem Namen ein Gefühl der Tragik verbunden bleibt.