Waldorflernt

Geht uns die Präsenz verloren?

Ulrike Sievers
Martyn Rawson

Die Konferenz (oder der Elternabend) beginnt mit einem Spruch, bevor Kollegin B mit ihrer kurzen inhaltlichen Darstellung zum Thema Raumgestaltung beginnt. Eine schöne Atmosphäre… doch dann stutze ich: neben mir fangen zwei Kolleg:innen leise an zu tuscheln, gegenüber schaut jemand verstohlen auf sein Handy und versucht, eine Nachricht einzutippen. Als einige Zeit später das Gespräch beginnt, ergreifen einige immer wieder das Wort, während andere mitten im Satz unterbrochen werden. Die Beiden neben mir sind nach wie vor mit der Planung der bevorstehenden Osterfeier beschäftigt und die Handykommunikation in der Hosentasche gegenüber scheint auch noch nicht vorbei.

Verstehen Sie mich nicht falsch! Ich liebe schön gestaltete Räume und bin überzeugt, dass sie eine Wirkung auf die Menschen entfalten, die sich in ihnen aufhalten. Genau darum geht es ja, wenn wir uns an Waldorfschulen über Bauweise, Architektur, Farbgestaltung, Möblierung und Lichtbeschaffenheit Gedanken machen. Und was für den äußeren Raum gilt, ist auch für die inneren Räume von Bedeutung. Schon in der Ausbildung lernen angehende Waldorflehrer:innen, wie wichtig es ist, dass Unterrichtsstunden einen Anfang und ein Ende haben, dass es einen gemeinsamen Einstieg geben, die Zeitstruktur stimmen und der Unterricht atmen sollte. Allerdings passiert es auch, dass solche Strukturen und Anregungen einfach nur mechanisch umgesetzt oder als alte Zöpfe angesehen und abgeschafft werden. Ähnliches können wir auch im Alltag erleben. Die gemeinsamen Familien-Mahlzeiten, die mit einer kurzen Besinnung beginnen, sind weniger geworden. Der Individualismus hat nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in vielen Familien Einzug gehalten und spätestens mit Eintritt der Kinder in die Pubertät folgt jedes Familienmitglied dem eigenen Hungerrhythmus und isst dann und dort, wo es gerade am besten in den eigenen Tagesablauf passt. Wenn früher der Streit um das Fernsehprogramm für Begegnung gesorgt hat, dann kann heute jede/r selbst bestimmen, was er / sie anschauen will, sitzt im eigenen Zimmer oder neben anderen eingestöpselten Menschen stumm auf der Couch – frei aber allein.

Das soll keineswegs heißen, dass «früher alles besser» war. Es zeigt lediglich, dass Dinge, die irgendwann mal selbstverständlich waren, ihre Selbstverständlichkeit verloren haben. Sollten wir also feststellen, dass es darunter Dinge gibt, die wir für sinnvoll erachten, dann tun wir gut daran, sie bewusst neu zu ergreifen. Das Leben verändert die Welt und wir können und müssen uns immer wieder entscheiden, was wir beibehalten, neugestalten oder loslassen wollen. Gerade die digitalen Medien, die wie eine große Welle in unser Leben geschwappt sind und alles durchdringen, können uns helfen, unser Bewusstsein für die Gestaltung von unsichtbaren Räumen zu schärfen.

Die Erfahrungen der letzten Jahre haben es nochmal deutlicher gemacht, dass sich das Konzept der gestalteten und gehaltenen Räume – Lern-, Erlebnis- und Begegnungsräume – keineswegs auf die materielle Ebene beschränken lässt. Vielmehr müssen wir auch die zwischenmenschlichen sozialen Räume in die Gestaltung einbeziehen. Seit den Lockdown-Erfahrungen und der vermehrten Zeit, die viele von uns seitdem in virtuellen Video-Räumen verbringen, werden mir die Unterschiede immer schmerzlicher bewusst: nicht die zwischen real und virtuell, sondern die zwischen einfach geschehen lassen und bewusst gestalten. Und das gilt sowohl für digitale als auch für analoge Räume!

Im Schulalltag sind das – neben dem täglichen Unterrichtsgeschehen – alle Formen von Konferenzen, Gremientreffen und Elternabenden. Vor allem in den #waldorflernt-Podcast-Folgen zur Allgemeinen Menschenkunde und zur Selbstverwaltung haben Kolleg:innen wiederholt erwähnt, wie wichtig Gesprächsräume sind, in denen jung und alt, erfahren und unerfahren, Lehrer:innen, Schüler:innen und Eltern, sich begegnen und miteinander in einen Dialog kommen können. Räume, die nicht durch Vorurteile, Hierarchien, Sprachbarrieren blockiert werden. Räume, in denen Fragen gestellt und Gedanken bewegt werden können – ohne Furcht vor schnellen Urteilen –, und in denen Menschen sich die Zeit nehmen und die Mühe machen, einander wirklich zuzuhören.

In seiner Theorie U hat Otto Scharmer dafür den Begriff des Containers geprägt. Das Gefäß, um das es dabei geht, ist allerdings weniger materieller als vielmehr sozialer Art. Otto Scharmer spricht von Containern im Zusammenhang mit der Gestaltung von Räumen, vor allem von Gesprächs- und Begegnungsräumen, in denen Menschen zusammenkommen, um miteinander zu sprechen, einander zuzuhören und gemeinsam an Zukunftsfragen zu arbeiten. Container symbolisieren einen Raum oder Rahmen, in dem Menschen sich sicher aufgehoben und gehalten fühlen. Spüren wir genau hin, welche Qualitäten so einen Raum ausmachen, dann stellen wir fest, dass wir uns dort sicher, respektiert und willkommen fühlen, dass wir gehört und gesehen werden, dass wir uns grundsätzlich darauf verlassen können, dass sich die Menschen mit Respekt begegnen, und dass wir innerlich loslassen können, weil wir wissen, dass es jemanden gibt, der auf die Struktur und den zeitlichen Ablauf achtet.

Solche geschützten und gehaltenen Räume entstehen nicht von selbst. Es braucht Menschen, die die notwendigen Rahmenbedingungen schaffen, die Treffen planen mit einem Anfang, einem Ende und einem gestalteten Mittendrin. Und gleichzeitig kommt es darauf an, dass wir alle uns unserer Verantwortung im Umgang miteinander bewusstwerden, dass wir achtsam sind und geistesgegenwärtig, dass wir Interesse aneinander haben, einander zuhören, uns offen und mit Respekt begegnen. Keine Privatgespräche nebenbei, keine Handynutzung am Abendbrottisch! Egal, ob in der Videokonferenz oder in Präsenz: Wir brauchen Räume der Teilhabe, in denen alle sich gesehen, gehört und verstanden fühlen. Wir brauchen Achtsamkeit und Präsenz – im digitalen, ebenso wie im analogen Raum!

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