In Bewegung

Gemeinsam in einem Ideal. Selbstverwaltung mit Eltern

Ellen Niemann
Foto: © photocase_3395199

»Die Eigentümlichkeiten der Selbstverwaltung beruhen auf individuellem Willenseinsatz, übergeordneten Zielsetzungen, Gestaltungfähigkeit, Liebe zur Sache, Identifikation und Verantwortung für das Ganze. Das alles sind Konsequenzen dessen, was mit ›geistigem Impuls‹ gemeint ist.«

Karl-Martin Dietz, Dialogische Schulführung1.

Die Elternarbeit und die Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen scheinen an Herausforderungen und Intensität zugenommen zu haben, auch durch sie werden Schaffenskräfte oft nicht gestärkt, sondern geschwächt. Sowohl die Eltern als auch die Pädagog:innen ringen um Erholungszeit und Ruhe und um Verständnis und Wertschätzung.

Obendrein liegt die Last der Weltgeschehnisse auch noch auf unseren Schultern, und es bedarf einer großen Willens­kraft bei Eltern und Pädagog:innen, den Kindern und Jugendlichen in diesen Zeiten die Zuversicht zu geben, dass sie sich auf uns verlassen können, dass wir für sie da sind und eine Verbindung zu einer Welt sein könnlen, die gut, schön und wahr ist.

Der Lebensraum Schule soll dabei mehr denn je ein Schutzraum sein. Ein Ort, der von Pädagog:innen und Eltern liebevoll gestaltet wird und in welchem die Schülerinnen und Schüler sich selbst und ihre Fähigkeiten erleben und entfalten dürfen. Der den Kleineren Liebe und Schönheit als inneres Fundament vermittelt und den Größeren die Sicherheit gibt, die eigenen Fähigkeiten und Urteile aus sich heraus erleben und sich auf sie verlassen zu können.

Waldorfschule als umfassenden Erlebnisraum verstehen

Ein solch umfassender Erlebnisraum kann nicht nur von Unterrichtseinheiten leben. Er lebt auch von seiner baulichen Gestalt, von der liebevollen Pflege des Schulhauses, von der verlässlichen Organisation und dem festen Willen derer, die darin Verantwortung übernehmen.

Wenn wir die Waldorfschule als einen solchen Ort begreifen und gestalten möchten, müssen wir uns auf eine andere Flughöhe begeben als die, die uns nur unseren eigenen Spielraum zeigt und keinen Blick auf das Ganze gewähren kann. Wollen wir das Leben der Kinder und ihre Zukunft mitgestalten und zunehmender Unsicherheit und dem Gefühl des Ausgeliefertseins etwas entgegensetzen, dann müssen wir unsere Herzen öffnen für die Zusammenarbeit an etwas, das sich von persönlichen Interessen entfernt und sich hinbewegt zur Freiheit, aus sich selbst im Interesse der Gemeinschaft zu handeln, gemeinsame Ideale zu finden und sie von der Idee in die Tat überzuführen.

Dazu bedarf es im Grunde nur des Interesses an einem solchen Vorhaben und dem Leitgedanken, aus der Kraft des Herzens das beizusteuern, was mit Freude getan werden kann und weniger die Erwartung voranzustellen, was »die Schule« dafür bereitstellen soll.

Ein Kollegium, das sich diesem Gedanken verschreiben möchte, strahlt seine positive Willenskraft bereits in die Schule, bevor auch nur ein Entschluss gefasst wurde. Wenn dann auch noch die Eltern in diesen Prozess so einbezogen werden, dass sie sich von der wichtigen Aufgabe mitgetragen fühlen, ist eine gute Voraussetzung geschaffen, wirksame Selbstorganisation zu gestalten.

Waldorfschulen haben sich in 100 Jahren entwickelt

Nun bringen aber sowohl Pädagog:innen als auch Eltern andere Lebensumstände mit als vor hundert Jahren. Individuelle Ansprüche und Bedürfnisse von Kollegiumsmitgliedern und Eltern haben sich entwickelt und müssen bei der Gestaltung der Schule so berücksichtigt werden, dass sie ein Herzensengagement nicht verhindern oder erschweren. Es sollte kein Tabu mehr sein, Menschen, die sich verantwortlich mit viel Zeit und Energie in die Schulgemeinschaft stellen, eine entsprechende Bezahlung oder einen Ausgleich zu gewähren. Solange die Entwicklung der Schule und die Arbeit an den geistigen Impulsen im Vordergrund stehen, sollte ein gemeinsam vereinbarter monetärer oder wie auch immer gearteter Ausgleich nicht verpönt sein.

Ein weiterer Aspekt, der eine genauere Betrachtung verdient, ist der, dass die Erziehenden sich auch in den Bereichen des Rechts- und Wirtschaftslebens in die praktischen Aufgaben stellen sollten, damit sie nicht »lebensfremd und unpraktisch« werden und in der Folge »keine rechten Praktiker in das Leben hineinerziehen«.2 Nachvollziehbar ist der Gedanke insofern, als dass jemand anders von einer Handlung erzählen kann, wenn er oder sie, sie auch selbst vollzogen oder erlebt hat.

Dennoch: Wie weit soll dies in der Selbstverwaltung gefasst sein? Oder anders gefragt: Wie ordnen wir diesen Gedanken in das vielerorts vorhandene Wunschmodell ein, zu gewissen Bereichen Expert:innen hinzuzuziehen oder gar Aufgaben an professionelle Anbietende auszulagern?

Überforderung durch Komplexität der Aufgaben

Viele Pädagog:innen, die in Schulleitungs-, Personal- oder anderen Entscheidungsgremien verantwortlich tätig sind, sehen sich heute überfordert mit der Vielfalt der Rechts- oder Genehmigungsfragen und wünschen sich professionelle Unterstützung, die Ihnen schnell Expertise an die Hand gibt und dadurch auch zügiger zu Entscheidungen verhilft. Mit der Reinigung des Schulgebäudes verhält es sich nicht anders: Welches Kollegium bringt die Kraft auf, auch noch Fenster und Flure regelmäßig zu reinigen? Putzkräfte einzustellen ist selbstverständlich und niemand findet das verwerflich.

Nichts spricht heutzutage dagegen, sich professionelle Hilfe zu holen und zum Beispiel Expertise aus der Elterschaft zu nutzen und so Eltern auch direkt ins Schulgeschehen einzubinden. Dennoch muss vorausgesetzt werden können, dass es sich nicht um eine reine Auslagerung von Aufgaben handelt, sondern um eine Unterstützung bei deren Lösung, und dass alle Aufgaben immer vom Kollegium mit Interesse und Geistesgegenwart begleitet werden. Eine solche Haltung birgt die Chance, den Anschluss an die Elternschaft zu pflegen und ihren Rat willkommen zu heißen bzw. aktiv zu suchen.

Corona-Teams als Beispiele für gemeinsame Verantwortung

Es ist immer wieder zu erleben, wieviel leichter es auf den Schultern wird, wenn Aufgaben und Verantwortungen geteilt werden. Und wie die gemeinsame Verbindung mit den Dingen, die zu tun sind, dazu führt, dass den Mittätigen mehr Verständnis und Wertschätzung entgegengebracht wird. Ein gutes, aktuelles Beispiel dafür waren die Besetzungen der »Corona-Teams« an Schulen mit Vertreter:innen aus dem pädagogischen Kollegium, der Verwaltung und der Elternschaft. Gemeinsam getragene Verantwortung sorgt für mehr Verständnis und ein Vorgehen auf Augenhöhe, das von Beginn an Spannungen abbauen kann.

Entlastung und ein gemeinsames Verständnis der Aufgabe sind wesentliche Merkmale und Voraussetzung für eine gelingende Selbstverwaltung. Ein pädagogisches Kollegium kann die Aufgabe, das ganze Schulleben zu organisieren, heute kaum noch alleine lösen. Die Expertise von Fachleuten und die Unterstützung aus der Elternschaft können nicht nur in eine gerechtere Verteilung der Aufgaben führen, sondern auch für ein verständnisvolleres Miteinander sorgen. Schulgemeinschaften hungern besonders seit Beginn der Pandemie nach diesem Gemeinschaftsgefühl. Ausgefallene Begegnungsrituale haben zu einer Entfremdung geführt, die mühsam und umsichtig wieder abgebaut werden muss. Der »Haager Kreis«3 hat in seiner Adventspost im Dezember 2021 unter den Schwächen, die Corona an den Waldorfschulen aufgedeckt hat, u.a. auch die Zusammenarbeit mit den Eltern benannt und vorgeschlagen, sie auf eine »neue Basis« zu stellen. Eine stärkere Bindung der Eltern an das Schulleben und das damit verbundene Gefühl, sich als tragender Teil der Gemeinschaft zu erleben, kann nicht nur die Beziehungsqualität heben, sondern auch das pädagogische Kollegium erheblich in der Schulorganisation entlasten. Einladend liest sich in diesem Zusammenhang ein Auszug aus Steiners »sozialem Hauptgesetz«: »Wenn ein Mensch für einen anderen Menschen arbeitet, dann muss er in diesem anderen den Grund zu seiner Arbeit finden; und wenn jemand für die Gesamtheit arbeiten soll, dann muss er den Wert, die Wesenheit und Bedeutung dieser Gesamtheit empfinden und fühlen«.4

Aktives Mitwirken der Eltern schafft Bindung

Eine innige Verbindung zwischen Schule und Elternhaus ist nicht nur der Beziehung mit den Lehrkräften zuträglich, sondern kann auch die Verbindung zwischen Pädagog:in und Schüler:in stärken. Wie anders bewegen sich Familien durch das Schulgebäude, wenn sie durch bestimmte Tätigkeiten an das Schulleben gebunden sind. Eltern im Festkreis, die wunderschöne gemeinsame Aktionen gestalten, ein Baukreis, der sich mit den Bedürfnissen der Schüler:innen und Pädagog:innen verbindet und einen äußerlichen Rahmen für das innere Tun schafft, sind tief im Schulleben verwurzelt. Das Wissen, dass die Eltern sich in »ihrer Schule« engagieren, führt dazu, dass die Kinder Schule und Elternhaus weniger separieren, sich sicherer fühlen und Schule mehr zu einem Lebens­ort wird.

Rudolf Steiner sprach 1924 direkt die Eltern an: »Wir in der Waldorfschule … brauchen dasjenige, was wir durch kraftvolles Zusammenwirken mit den Eltern haben können. Daher bitte ich Sie, beratschlagend und in anderer Weise oft in die Schule zu gehen. Es wird das, was wir und Sie für die Kinder wollen, im besten Sinne erreicht werden, wenn wir mit dem Elternhause in kraftvoller Weise zusammenwirken können.«5

Je mehr Menschen sich mit »Liebe zur Sache« einem gemeinsam gefundenen »übergeordneten Zweck« verschreiben, umso leichter können die Aufgaben erledigt und umso freudiger zur Tat geschritten werden.

Eltern müssen Teil des Ganzen sein

Dabei ist es wichtig, dass Eltern nicht nur helfend, sondern wirklich als Teil des Ganzen verstehen. Um dies zu erreichen, ist ein Vertrauen zur Waldorfpädagogik und ihren wesentlichen Aspekten Voraussetzung. Elternabende, Schulversammlungen, Runde Tische und Schulparlamente sollten immer geführt sein in einem Rahmen, der den Bezug zum inneren Wesen der Pädagogik herstellt und die Herzen direkt anspricht. Je mehr es zur Gewohnheit wird, sich mit Aspekten der Waldorfpädagogik vertraut zu machen, umso mehr Verständnis und Liebe kann einer Aufgabe oder einer Verantwortung entgegengebracht werden.

So ein Vorhaben ist nicht schwer: Habe ich einmal mit Eltern einer achten oder neunten Klasse zu menschenkundlichen Aspekten der Pubertät gearbeitet oder mit dem Elternrat über Dreigliederung sinniert und dabei die Herzen und Bedürfnisse der Eltern angesprochen, kann ich eine Wärme im Raum spüren, die bei rein organisatorischen Themen eher nicht aufkommen mag. Wenn es gelingt, den Eltern einen direkten Bezug zu ihren persönlichen Anliegen anzubieten, ist das Interesse schon gewonnen.

Gewiss ist es nicht möglich, alle Eltern gleichermaßen zu erreichen. Ebenso wird es Kolleginnen oder Kollegen geben, die sich scheuen, in eine inhaltlich vertiefende Elternarbeit zu gehen. Aber auch sie können von der Gemeinschaft mitgetragen werden, wenn das gemeinsame Ideal lebendig gehalten wird und »Identifikation« und die »Liebe zur Sache« nicht nur als Ziel, sondern als ständig zu nährende Aufgabe verstanden werden.

Anmerkungen / Literatur:

1 Karl-Martin Diez, Dialogische Schulführung, 2006, S. 51. | 2 Rudolf Steiner, Kernpunkte der sozialen Frage, 1919, Vorrede und Einleitung, S. 5. | 3 Haager Kreis (Internationale Konferenz für Steiner Waldorf Pädagogik), Advent 2021, »Aufgaben und Ziele für eine zukunftsfähige Waldorfbewegung«. | 4 Rudolf Steiner, GA 34, S. 214. | 5 Ders.:, GA 298, S. 203.

Ellen Niemann, *1967, war von 2007 bis 2020 in der Elternvertretung aktiv (Landeselternrat Berlin-Brandenburg, Bundeselternkonferenz, Bundeskonferenz und ENSWap/European Network of Steiner Waldorf Parents). Mitarbeit an der Broschüre »Konflikte an Schulen« des LER Berlin-Brandenburg. Tätig in der Verwaltung einer Berliner Waldorfschule seit 2006. ellen.niemann@annie-heuser.schule

Kommentare

Es sind noch keine Kommentare vorhanden.