Gerechte Gründe. Macht Literaturunterricht friedlicher?

Matthias Kirchhoff

Dass das Lesen den Menschen zufrieden mache und damit auch zu Frieden führe, ist wohl eine naheliegende Idee. Wenn man den Blick auf Bücher richtet, kann man in diesem Moment weder schießen noch stürmen, was z.B. für das Hören von Musik nicht gilt. Während die Soldaten beider Weltkriege ihre Feldausgaben lasen, kämpften sie nicht.

Wesentlicher als dieser Gedanke ist der, dass das Lesen literarischer Texte meist zur Reflexion auf Ideen und Werte anregt, was der militärischen Abrichtung zum »blinden Gehorsam« fundamental entgegenläuft. Und gab es nicht Bücher wie Bertha von Suttners Die Waffen nieder oder Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues, deren friedensstiftende Wirkung niemand bestreiten wird? Leider liegen die Dinge nicht so einfach: Hitler war – wie viele Diktatoren – bekanntlich ein Bücherwurm, sein Propagandaminister sogar promovierter Literaturwissenschaftler. Und dass es Texte gibt, die Gewalt und Diskriminierung fördern, kann man kaum bestreiten. Mehr noch, es gibt Literatur, die physische Gewalt als Mittel und Weg zur Durchsetzung des Guten hochhält – was weder unproblematisch ist noch zwingend falsch sein muss: Friedrich Schillers Wilhelm Tell verhandelt im Kern z.B. nichts Geringeres als den Tyrannenmord, also die Frage, wann es legitim oder sogar geboten ist, zu töten. Noch früher, im 15. Jahrhundert, stellte ein mit recht »modernen« Methoden lehrender Pädagoge namens Johannes Rothe in seinem Ritterspiegel dar, dass ein junger Ritter dem Guten (heißt hier: dem Christentum) diene, wenn er die causa iusta, also den »gerechten Grund« habe, um in einem bellum iustum (»gerechten Krieg«) zu kämpfen, zu töten und zu sterben. Und lehren nicht auch wir Waldorflehrer mit Wolframs Parzival einen Text, in dem der Held eine Spur von Verbrechen und Kämpfen zurücklässt, um schließlich Gralskönig zu werden und so seiner guten Bestimmung zu dienen?

Die Sache mit der causa iusta ist also seit jeher knifflig – und wird noch komplizierter dadurch, dass der Begriff »Literatur« umso unschärfer wird, desto intensiver man sich damit beschäftigt. Hierzu eine persönliche Erinnerung: Zu Anfang meines Germanistik-Studiums belegte ich ein Seminar mit dem verheißungsvollen Titel: »Was ist Literatur?« Der Dozent kam in die erste Sitzung und sagte, man möge keineswegs annehmen, dass am Ende der Veranstaltung klar sei, was Literatur ist. Dies wisse überhaupt nur eine Instanz. Nun entstand ein wildes Raten: »Die Kritiker?« – »Nein!«, »Die Verleger?« – »Nein!«, »Reich-Ranicki?« – »Schon gar nicht!« Die Lösung lautete: »Die Juristen!«, denn die müssten ja unterscheiden können, was Literatur sei (und damit künstlerische Freiheit beanspruchen könne) und was einfach nur verleumderisch oder verhetzend sei – und damit strafbar. Literatur, so lernten die jungen Studenten, ist also ein herzlich unfester Begriff und hat nur eine einzige, recht durchlässige Grenze, nämlich die zum »strafrechtlich Relevanten«. Mit anderen Begriffen wie dem »Frieden« oder auch der »Gewalt« sieht es nicht viel besser aus: Klar greifbar ist »Gewalt« z.B. nicht (Gibt es etwa Gewalt gegen Sachen?), und in ihrer mittelhochdeutschen Bedeutung ist sie wertneutral und bedeutet bloß »Macht«. Die Begriffe, Konzepte und Wörter zerbröseln uns also »wie modrige Pilze« im Mund, so wie es Lord Chandos in Hofmannsthals berühmtem Brief empfindet.

Dennoch glaube ich, dass ein gewisser Optimismus angebracht ist, wenn es um die Frage geht, ob die Beschäftigung mit Literatur im Allgemeinen und auf Literatur bezogene Pädagogik im Speziellen zur Befriedung der Welt beitragen kann. Lesen und das Gelesene zu reflektieren hilft jedenfalls, einfache Denkmuster zu vermeiden, mit denen man Menschen in Kriege hetzen kann. Doch wie soll ich das in gebotener Kürze darstellen?

Ich orientiere mich hierfür an einem Zitat des berüchtigten Nazi-»Reichsmarschalls« Hermann Göring während der Nürnberger Prozesse. Er führt darin unverblümt aus, wie leicht es sei, gewöhnliche Menschen zum Mitmachen im Krieg zu bringen, obwohl sie dies gar nicht wollten: »Das Volk kann mit oder ohne Stimmrecht immer dazu gebracht werden, den Befehlen der Führer zu folgen. Das ist ganz einfach. Man braucht nichts zu tun, als dem Volk zu sagen, es würde angegriffen, und den Pazifisten ihren Mangel an Patriotismus vorzuwerfen und zu behaupten, sie brächten das Land in Gefahr. Diese Methode funktioniert in jedem Land« (übersetzt aus: Gilbert, Gustave: Nuremberg diaries, 1947, S. 270, deutsch 1962).

Dies ist ebenso zynisch – wie leider auch wahr: Man muss nur an das Vorfeld beider Weltkriege oder des US-Krieges gegen Afghanistan vor 20 Jahren denken. Göring setzt für seinen Bauplan zur Kriegshetze indirekt mehreres voraus, bei dem Literaturunterricht ansetzen und – sozusagen mit »gerechten Gründen« – gegenwirken kann, u.a.:

  • Denken in Hierarchien (»Volk« / »Befehle«/ »Führer«),
  • naive Gutgläubigkeit des Volkes (»dem Volk zu sagen« / »zu behaupten«),
  • Denken in nationalen und ideologischen Schablonen (»Land« / »Pazifisten« / »Patriotismus«). Ein paar wenige – erweiterbare – Unterrichtserfahrungen nehmen darauf direkt Bezug.

Hierarchiekritik

Schulen – auch Waldorfschulen – sind zwangsläufig hierarchisch: Lehrer schreiben Zeugnisse, in der Oberstufe geben sie Noten, erteilen notfalls Verweise usw. Zugleich beschäftigt sich der Unterricht etwa im Fach Deutsch damit, Hierarchien zu hinterfragen. Man prüft, unter welchen Bedingungen sie berechtigt und wann sie bloß hohl und schädlich sind. Wenn ich aktuelle Prüfungstexte durchgehe, so wird die Familienhierarchie in Hans-Ulrich Treichels Der Verlorene ebenso entlarvt wie Religion und Wissenschaft in Goethes Faust oder das Ordnungssystem des Bürgertums in Hoffmanns Der goldne Topf. In Robert Seethalers Trafikanten erscheint die Hierarchie zwischen dem jungen Franz Huchel und seinem Freund Sigmund Freud hingegen durch Lebenserfahrung und Intellekt durchaus gerechtfertigt. Anders, als Göring es voraussetzt, diskutiert der Unterricht also indirekt die Bedingungen auch seiner eigenen Hierarchiebildung.

Quellenkritik

Zu prüfen, ob eine Mitteilung glaubwürdig ist oder nicht, ist v.a. im Fach Geschichte ein zentraler Vorgang, der »Quellenkritik« heißt. Ist eine Aussage demjenigen nützlich, der sie tätigt, so ist sie nach dem Prinzip Cui bono (»Wem nützt es?«) weniger belastbar, als wenn es nicht so ist. Dies lässt sich mit Schülern leicht erproben, macht ihnen in der Regel Spaß und bewahrt sie womöglich davor, so naiv Behauptungen zu glauben, wie Göring es ansetzt. Dies gilt im Übrigen auch, wenn es darum geht, dem Lehrer nicht immer alles abzunehmen. Im Fach Deutsch gilt es ebenfalls oft, das Glaubwürdige einer Erzählung vom Unglaubwürdigen zu unterscheiden. Unzuverlässige Erzähler sind z.B. in oft gelesenen Romanen der Oberstufe elementar, so Frischs Homo Faber, Peter Stamms Agnes oder Hesses Steppenwolf. Literatur kann also die Abwehrkräfte gegen Unwahrheit schulen – und damit auch gegen das Betrogen- und Verführtwerden.

Ideologiekritik

Ideologien – also Lehren, die versprechen, durch eine Deutungsperspektive allein die Welt erklären und bessern zu können – waren v.a. im 20. Jahrhundert eine Geißel der Menschheit, ihre Folgen oft von größter Grausamkeit.

Literatur kann ebenso Instrument der Befestigung wie der Hinterfragung solchen Gedankenguts sein – letzteres ist mit guten Gründen bis heute der Fall. Wenn man z.B. mit Zehntklässlern im Fach Deutsch William Goldings Herr der Fliegen liest, so entfernt man sich mit diesem englischen Werk nicht allein vom engen Fokus auf die eigene Sprache. Golding formulierte in seinem Roman auch den Gedanken, dass das Übel der Welt nicht im Bereich der Nationen zu suchen sei – was ja bei Entstehung 1954 ein bequemer Gedanke war –, sondern im Wesen des Menschen: auch das ein (erfreulich) diskutabler Gedanke. Kritik am Denken in Nationen formuliert auch Goethes Faust – etwa, wenn er sich über den Franzosenhass der Deutschen lustig gemacht wird. Und die verheerenden Folgen der nationalsozialistischen, aber z.T. auch der marxistischen Ideologie greift man in geläufigen Oberstufenstoffen wie Jurek Beckers Jakob der Lügner und Bronsteins Kinder oder Treichels erwähntem Verlorenen.

Diese kleine »Stichprobe« zeigt, dass die Beschäftigung mit Literatur im Unterricht durchaus dazu beitragen kann, die Leser bzw. Schüler reflektierter und damit weniger empfänglich für die Verführungen der Kriegstreiberei zu machen. Das ist nicht wenig! Zugleich ist es auch kein Selbstläufer. Die Anforderungen an Lehrer sind dabei meines Erachtens, weniger Autorität zu beanspruchen als zu sein, auch zum Hinterfragen der eigenen Person zu ermutigen und selbst keine Ideologien – auch keine pädagogischen! – absolut zu setzen.

Und auch das ist nicht wenig!

Zum Autor: Dr. Matthias Kirchhoff ist Oberstufenlehrer für Deutsch, Geschichte und Kunstgeschichte an der Freien Waldorfschule Schwäbisch Hall und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Literaturwissenschaft an der Universität Stuttgart.