Geschichte als Symbol

Albert Schmelzer

Goethe war ein geborener Naturforscher, aber gegenüber der Geschichte war er ein Skeptiker. Stellen nicht verschiedene Zeugen einen Vorgang ganz unterschiedlich, manchmal widersprüchlich dar? Verderben nicht nationale oder religiöse Vorurteile den reinen Blick auf das Geschehen? Entsprechend lässt er seinen Faust sagen:

»Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit,
sind uns ein Buch mit sieben Siegeln;
was ihr den Geist der Zeiten heißt,
das ist im Grund der Herren eigener Geist,
in dem die Zeiten sich bespiegeln.«

Goethe hatte ein waches Bewusstsein von den Schwierigkeiten der Geschichtserkenntnis und der Geschichtsschreibung. Er wusste: Zunächst ging es darum, mit Hilfe eines sorgfältigen Quellenstudiums und akribischer Quellenkritik die Geschehnisse möglichst genau zu rekonstruieren. Aber viel gewonnen war damit noch nicht. Denn eine bloße Liste der Daten und Fakten verrät eben nicht das, was wirklich interessiert: Was bewegt Geschichte? Was treibt sie voran? Welche Kräfte wirken? Um aus den »Schlackenhalden vergangener Jahrhunderte« den Funken geschichtlichen Lebens zu schlagen, ist der Künstler gefragt, genauer: seine exakte Phantasie. Sie schafft es, die historischen Gestalten auszumalen: ihre Art zu sprechen, sich zu bewegen, zu handeln – sie sollen anschaulich, lebendig, bildhaft vor uns stehen. Aber der Geschichtsschreiber ist mehr als ein »Bildchenverfertiger zur Chronik«, ihm kann es nicht reichen, Einzelgestalten nebeneinander zu stellen. Vielmehr zielt er darauf, das Tableau einer Epoche zu zeichnen. Dazu benötigt er seine konstruktive Phantasie, sie eliminiert Unwesentliches, hebt Zentrales hervor, schafft Zusammenhänge. Goethe spricht in diesem Kontext vom Sinnbild oder Symbol. Im Symbol leuchten die komplexen Beziehungen wie in einem »geistigen Spiegel« auf. Genau das hat Goethe in seinen historischen Dramen: dem »Götz von Berlichingen« und dem »Egmont« getan und damit charakteristische Motive der beginnenden Neuzeit und der niederländischen Geschichte erfasst. Rudolf Steiner hat Goethes Ansatz aufgegriffen und weitergeführt. Er verwendet den Begriff des »Symptoms« als Schlüssel zur Tiefendimension der Geschichte.

Die Phantasie führt zur Erkenntnis

Steiner empfiehlt Anschaulichkeit, auch für ihn ist die Phantasie das Organ der Geschichtserkenntnis. Allerdings verlangt ein wissenschaftlicher Zugang – und der ist für den Geschichtsunterricht maßgeblich – dass die Phantasie wirklich exakt ist und sich der historischen Kritik sowie dem Veto der Quellen stellt. Versucht man ein Tableau der Geschichte der Neuzeit zu entwerfen, so drängt sich das Ereignis auf, in dem die großen Sozialideen der Moderne – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – realisiert werden sollten: die Französische Revolution. Gewaltig sind die Erwartungen, als die Generalstände einberufen werden, groß ist die Begeisterung, als sich die Nationalversammlung 1789 durchsetzt und die Abgeordneten den Schwur leisten, Frankreich eine neue Verfassung zu geben.

15 Jahre später: Napoleon krönt sich selbst zum Kaiser. Was ist aus den ursprünglichen Idealen geworden? Die Pressefreiheit ist unterdrückt, die persönliche Freiheit durch landesweit operierende Polizeispitzel bedroht. Ein erblicher Verdienstadel wird eingeführt und mit Titeln und Ländereien ausgestattet – diese neue Aristokratie ist von Napoleon persönlich abhängig. Und die Brüderlichkeit? Europa wird mit Kriegen überzogen … Auch in Deutschland, das noch ein Flickenteppich von Fürstentümern ist, dringen die liberalen Ideen vor, auch hier herrscht große Begeisterung. Was aber wird aus ihnen? Die Revolution von 1848 scheitert und die deutsche Einheit wird erst unter Bismarck nach Kriegen gegen Österreich und Frankreich im zweiten deutschen Kaiserreich verwirklicht. Dabei geht die Staatsgewalt nicht vom Volke aus, sondern liegt bei den Fürsten. Das geistige Leben ist durch Zensur geknebelt, die soziale Frage durch die Einführung der Kranken- und Unfallversicherung sowie die Altersversicherung bestenfalls gemildert, aber nicht gelöst. Zudem ist der französische Nachbar gedemütigt worden – eine der Entstehungsbedingungen des Ersten Weltkriegs.

Versucht man die angedeuteten Bilder miteinander zu vergleichen, so zeigen sich ähnliche Entwicklungen: Innerste seelische Impulse brechen auf, sie sind berechtigt, hochfliegend, voller Kraft. Aber sie geraten in Sackgassen, verkehren sich in ihr Gegenteil.

Wer verstehen will, muss fühlen

Worauf deuten die angeführten Symptome hin? Geht man innerlich erlebend den Geschehnissen nach, so zeigen sich Aufbruch und Verfall, Begeisterung und Enttäuschung; auf die Lebenskeime in der ersten folgen Todesprozesse in der zweiten Phase der Moderne. Damit haben wir ein inneres Bild, eine Imagination unseres Zeitalters gewonnen.

Wie aber kommt es zu diesem Umschlagen von der Euphorie zur Desillusionierung? Im inneren Durchfühlen dieser Kräftewirksamkeit – eine inspirative Tätigkeit – werden wir entdecken, dass sie uns nicht fremd ist: Im persönlichen Leben kennen wir den angedeuteten Pendelschlag zwischen den Ideen, die uns erwärmen, begeistern, aber auch hinreißen, und den reflektierten, kühlen, auch zynischen Gedanken. Diese Kräfte wirken auch geistig wesenhaft in der Geschichte, ihre Spuren zeigen sich in den geschilderten Symptomen. Eine solche Erkenntnis aber enthält die Herausforderung, an den Todesprozessen zu erwachen und das soziale Leben aus dem Gleichgewicht engagierter Herzenskräfte heraus so zu gestalten, dass eine menschliche Zukunft möglich wird. Dieses Bemühen führt in den Bereich des Intuitiven hinein: in die von Erkenntnis durchdrungene, willenshafte Verbindung mit dem Geist der Zeit. 

Literatur:

Andre Bartoniczek: Imaginative Geschichtserkenntnis, Stuttgart 2009 | Albert Schmelzer: Exakte Fantasie als Organ der Geschichtserkenntnis, in: Hartwig Schiller (Hrsg.), Wirklichkeit und Idee, Stuttgart 2008 | Ernst Cassirer: Goethe und die geschichtliche Welt, Hamburg 1995