Liebe Leserin, lieber Leser,
ich erinnere mich: Als Schüler war ich bei den Demonstrationen gegen das Kernkraftwerk Wyhl dabei, dann in Kaiseraugst, als Student in Brokdorf, bei der Räumung der besetzten Häuser in der Festung
Freiburg ... Und ich lernte staatliche Gewalt von einer anderen Seite kennen, die – trotz aller politischen und juristischen Legitimation – nicht immer des Volkes Stimme repräsentieren muss.
In Stuttgart nehmen die Demonstrationen gegen das Bahnprojekt »Stuttgart 21« ungewohnte Ausmaße an: ungewohnt die Zahl der protestierenden Menschen, ungewohnt die Härte, mit der sie vertrieben
werden. Darunter viele alte Menschen – und sehr junge. Besonders Letztere hat es kalt erwischt. Ihre Fun-Party fand in Wasserwerfern, Schlagstöcken und Pfefferspray ein jähes Ende. Geschockt berichten sie ihren Eltern und Lehrern von ihren Erlebnissen, weinen, sind fassungslos, ihre sorglose Naivität ist dahin, ihr Demokratieverständnis erschüttert. Ja, das gibt es: Ein Polizeilastwagen ist nicht zum Spielen da!
Zeitgleich wurden zwanzig Jahre Wiedervereinigung gefeiert und an die mutigen »Das Volk sind wir«-Skandierenden erinnert, die damals auf die Straße gingen: Es begann mit den Montagsdemonstrationen in Leipzig, die Deutschland veränderten.
Der Protest gegen »Stuttgart 21« ist ein Symptom. Das zeigt der breite Protest quer durch alle Bevölkerungsschichten – vom Krawattenträger bis zum Ökofreak. Den Bürgern wurden zu viele Rettungspakete und Milliarden aufgeschultert, deren Effekt mehr als zweifelhaft ist. Das wissen auch die Politiker. Deshalb hat »Stuttgart 21« Signalwirkung für Berlin.
Vielleicht werden die jungen Menschen Zeugen einer politischen, wenn nicht historischen Wende, die des Volkes Stimme näher an des Politikers Ohr rückt. Es wird zwar dagegen gehalten: »Bei uns entscheiden Parlamente, niemand sonst« – aber vielleicht muss der Begriff von Demokratie dahingehend erweitert werden, dass Volksabstimmungen – nicht nur in Sachen »Stuttgart21« – ein von vielen engagierten Bürgern empfundenes Defizit beheben – ohne dass man dem Chaos und dem lokalen Egoismus – »Wenn man nur an sich denkt und nicht an kommende Generationen, ist das ein Problem für unser Land« (Merkel) – Tür und Tor öffnet, wie manche Leitartikler und Spitzenpolitiker befürchten.
Die Idee und anfängliche Praxis der Runden Tische in der ehemaligen DDR ging mit fortschreitender Wiedervereinigung sang- und klanglos unter. Könnten sie nicht als basisdemokratisches Instrumentarium die politische Kultur wiederbeleben?
Wird Demokratie nicht zu einer Hohlform, wenn der Bürgerwille sich darin erschöpft, alle vier Jahre zur Wahl oder erst gar nicht mehr wählen zu gehen? – Genügend Gesprächsstoff für den Geschichts- und Gemeinschaftskundeunterricht.
Aus der Redaktion grüßt
Mathias Maurer