Ich liebte es, mit den alten Menschen zusammen zu sein und sie zu pflegen, bis ich merkte, dass viele meiner Handlungen als Pflegerin von Ärzten diktiert wurden. Ich wollte Eigenverantwortung übernehmen und sagte mir: »Gut, wenn man dafür das Maximum wissen muss, dann werde ich Ärztin.« Das war ein starkes Motiv, selbstständig begreifen und helfen zu können.
Das ist auch heute noch so und es schmerzt mich, zu erleben, wie im Verlauf dieser Pandemie Großeltern und Enkelkinder sich teilweise über Monate nicht sehen können. Kinder, so erlebe ich es in meiner ärztlichen Praxis immer wieder, haben eine große Sehnsucht nach alten Menschen mit ihren Lebenserfahrungen, ihrer Gelassenheit und gewachsenen Individualität. Dementsprechend haben Veränderungen solcher Beziehungen eine tiefe Wirkung.
Die Aussage »Schützt eure Angehörigen!« hat bei manchen Kindern zu starken Ängsten geführt. Ich habe insbesondere Kinder im empfindsamen Alter von neun bis elf Jahren gesehen, die nicht mehr einschlafen können, die Bedürfnisse ihrer eigenen Entwicklung hintanstellen, um niemanden zu gefährden. Auch sorgen mich zunehmend Jugendliche, die morgens nicht mehr aus dem Bett kommen, weil ihnen die Motivation – z.B. ihre Freunde in der Schule zu treffen – und der Rhythmus abhandengekommen sind. Und das sind nur die ersten Symptome: Viele Erlebnisse und Erfahrungen der Kinder werden wir erst in den nächsten Jahren in ihrer tiefgreifenden Bedeutung verstehen lernen und es macht Sinn, über das nachzudenken, was sie gesund macht.
Das Kind als »physiologische Frühgeburt«
Den Begriff hat Portmann geprägt. Gemeint ist damit, dass wir unfertig und entwicklungsoffen auf die Welt kommen. Das Schöne am Unfertig-Sein ist, dass Entwicklung noch möglich ist. Das ist einerseits das grandiose Noch-Frei-Sein für Veränderung, für Lernen und für Prägungen.
Anderseits – das klingt im Wort Frühgeburt an – sind wir auf Schutz angewiesen, auf andere Menschen, auf Beziehung und auf Nähe. Am Anfang des Lebens brauchen wir sogar jemanden, der uns fast alles abnimmt.
In der Mitte der Kindheit ist die Offenheit nicht mehr so leiblich wie beim Kleinkind, sondern findet sich viel mehr auf der Ebene des Erfahrens, Erlebens und Lernens wieder. Das bildet und prägt in der Schulzeit die seelische Innenwelt. Wobei man auch da Schutz und zudem Orientierung durch den Erwachsenen braucht. Zwar will das Kind nicht mehr so an die Hand genommen werden, aber es will die Welt in all ihren Facetten, Nuancen und in ihrer Größe gezeigt bekommen. Da ist eine große Sehnsucht. Vor allem wollen die Kinder erleben, wie sie das Leben und alle Herausforderungen, die es mit sich bringt, immer souveräner meistern können.
Wie lernen Kinder gesund zu werden?
Gesundheit ist ja kein statischer Zustand, obwohl bei der Geburt z.B. mit Freude festgestellt wird, dass »das Kind gesund« ist, womit jedoch zunächst nur gemeint ist, dass alle Organe gut ausgebildet und die physiologischen Funktionen als körperliche Entwicklungsvoraussetzung gegeben sind. Blickt man aber auf das noch kaum entwickelte Immunsystem und auf Tätigkeiten wie Schlafen, Ernähren und Verdauen, die das Kind noch nicht beherrscht, kann man sagen, »das Kind muss lernen, gesund zu werden«. Es muss lernen, sich zu ernähren, zu bewegen und zu erholen. Diese Fähigkeiten müssen teilweise über lange Zeiträume – manchmal mehrere Jahre – erworben werden. Hier spielt der Rhythmus eine große Rolle. Er hilft dem Kind, sich an die jeweiligen Umstände anzupassen, eine innere Stabilität zu entwickeln und widrigen Gegebenheiten gegenüber unabhängiger, d.h. autonomer zu werden. Für die Entwicklung der körperlichen und seelischen Gesundheit spielen intensive Berührungen, Wahrnehmungen und Begegnungen eine große Rolle, denn sie helfen dem Kleinkind unter anderem, seinen Leib als Sinnesorgan und als Handlungsinstrument zu beherrschen und zu regulieren. Durch sichere Beziehungen und intensive Kommunikation entwickelt das Kind seelisches Gleichgewicht, Ausdrucks- und Sprachfähigkeit. Wenn dann nach der Kindergartenzeit, in der das Kind noch wohl behütet ist, die Schulzeit beginnt, geht es darum, die Welt immer selbstständiger zu entdecken, intensive Erfahrungen zu machen. Was oft übersehen wird, ist, dass es in der Schule nicht nur um Wissensvermittlung geht. Jeder kann sich erinnern, wie sehr er in seiner Schulzeit darauf geachtet hat, wie ein Lehrer unterrichtet und wer dieser Lehrer als Person ist. Das ist ja ein Zeichen dafür, dass Kinder eigene Lebensmotive mitbringen, die sich im besten Fall an der Persönlichkeit des Lehrers entzünden und beflügeln und nicht am objektiven Unterrichtsstoff. Dieses Lernen aus Liebe, Begeisterung und Hingabe, auch für die verehrte Autorität, ist viel wichtiger als der Lehrplan, es gibt eigene Orientierung und bildet die Grundlage für die seelische Gesundheit, die ein ganzes Leben tragen kann. Wunderbar ist es dann, wenn im Lauf der Schulzeit diese personale Beziehung in den Hintergrund tritt und die Schüler auf Wanderungen, Reisen und Ausflügen ihr eigenes Interesse an der Welt und an der Gemeinschaft entwickeln können. Schulen können auf verschiedene Art und Weise Gesundheit fördern. Manche Möglichkeiten ergeben sich aus dem normalen Alltag und sind nicht immer bewusst intendiert. Erst ihr Fehlen in Corona-Zeiten macht uns gerade klar, wie sie uns Kraft, Halt und Sicherheit geben. Der Tagesrhythmus, der mit dem Aufstehen beginnt und mit dem Ins-Bett-Gehen endet und dazwischen viele wiederkehrende Elemente enthält, ist wie ein stabiles Gerüst. Dazu gehören der Stundenplan an der Schule, die Mahlzeiten, aber auch die Gemeinschaft mit anderen Kindern. Nicht unwichtig ist die Schule als Ort geschützter Öffentlichkeit und sozialer Strukturen. Konflikte müssen ausgetragen, Standpunkte eingenommen und wieder verlassen sowie eigene Bedürfnisse vertreten und Intentionen mutig geäußert werden. Schüler sind im öffentlichen Raum der Schule aufgerufen, sich selbst zu zeigen, anzupassen sowie behaupten zu lernen.
Beziehungen während des Schul-Lockdowns
Das meiste davon fällt während der Schulschließungen weg. Der digitale Unterricht geht zwar an manchen Schülern ohne sichtbare Spuren vorbei. Andere, insbesondere Jugendliche, schaffen es nicht einmal mehr, morgens aufzustehen, einige von ihnen verbringen den ganzen Tag im Bett oder am Computer und sind über weite Strecken alleine zu Hause, weil die Eltern arbeiten müssen – insbesondere bei Alleinerziehenden.
Die Gründe dafür, dass es Lehrern gelingt, mit den Schülern während des Lockdowns in Kontakt zu bleiben, sind vielfältig. Entscheidend ist, wie die Beziehung vorher schon angelegt war. Gab es schon eine tragfähige Beziehung oder nicht? Viele junge Schüler haben sich über Postkarten, Briefe, Bilder oder Telefonate mit persönlichen Worten ihrer Lehrer gefreut. Was es braucht, sind die kleinen Gesten! Ein weiterer Faktor ist das häusliche und soziale Umfeld, in dem das Kind lebt. Wird das Zimmer mit drei Geschwistern geteilt und sind überhaupt genügend Rückzugs- und Lernräume vorhanden? Haben Kinder und Jugendliche genug Freiraum, um sich zu bewegen? Oder ist das Kind alleine? Wie sieht es mit Überforderung, dadurch wachsender Aggression oder gar Gewalterfahrungen zu Hause aus? Wer bemerkt etwas davon?
Diese Widrigkeiten sind aber kein Grund, nichts zu machen. Gerade wenn es keinen Sportunterricht oder -verein gibt, der Bewegungsangebote schafft, ist es wichtig, sich intensiv zu bewegen und beispielsweise mindestens einmal am Tag um den Häuserblock zu joggen, um verschwitzt und durchwärmt nach Hause zu kommen. Bewegung wirkt antidepressiv! Man kann sich auch seelische Freiräume gönnen, bewusste Rückzugsräume schaffen, gemeinsam lachen oder ausruhen.
Da, wo Eltern im Umgang mit der Begrenzung digitaler Medien überfordert oder aus wirtschaftlichen Gründen nicht zu Hause anwesend sind und zugleich Kinder von Gefahren wie sexualisierter Gewalt im Internet in ihrer Gesundheit gefährdet werden, empfehle ich immer, Hilfsangebote – z.B. über das Jugendamt oder Schutz- und Beratungsstellen – viel großzügiger einzufordern und Hilfe frühzeitig anzunehmen. Die aktuelle Situation schafft Einsamkeit und gerade diejenigen, die schwächere Familien- und Helfersysteme um sich haben, leiden vermehrt darunter. Jedes Kind braucht eine verlässliche Bezugsperson und einen Helfer an seiner Seite.
Gesunde Entwicklungsräume gestalten
Sozial-emotionale Entwicklung geschieht nur in Gemeinschaft. Darin liegt auch ein Grund, warum Kindern und Jugendlichen der gemeinsame Lernprozess so sehr fehlt. Es gehört zu den Urfreuden der Kindheit, eine Gemeinschaft zu finden, in der man sich begegnen, streiten, anfreunden und seelisch entwickeln kann. Mich hat es sehr berührt, zu sehen, wie manche Kinder nach dem ersten Lockdown gejubelt haben, als sie ihre Mitschüler wieder getroffen haben. Während in der frühen Kindheit die Familie den primären und seelischen Entwicklungsraum darstellt, wird dieser im Lauf der Schulzeit immer mehr von der Klassengemeinschaft abgelöst. Die Sozialentwicklung fordert diese Gemeinschaft, damit man lernt, Konflikte auszutragen, sich zu verabreden, verbündete und verschworene Freunde zu finden.
Anderseits ermöglicht gerade der geschützte Sozialraum der Schule den Lehrern, Sozialarbeitern, Therapeuten und Schulärzten den vorhandenen Hilfebedarf wahrzunehmen. Die große Sorge der Kinderärzte, Psychiater, Psychologen und Sozialarbeiter ist, dass viele Probleme und Schwierigkeiten nicht sichtbar und erst viel später bemerkt werden. Wir werden erst in den nächsten Jahren sehen, was gefehlt und im Verborgenen an Gewalt und Gefährdung stattgefunden hat. Oft ist es gerade nicht der böse Wille der Betroffenen, sondern die Scham oder ein »Ich schaff das alleine!«, was die Menschen davon abhält, Hilfe zu holen. Wenn ich mir die aktuelle Situation vergegenwärtige, auf das vergangene sowie das vor uns stehende Jahr schaue, dann sehe ich, dass die Pandemie und die Maßnahmen eine tiefgreifende Veränderung der kindlichen Entwicklungsbedingungen herbeigeführt haben. Wir sollten an Schulen und Kindergärten intensiv darüber nachdenken, wie wir mit Kindern und Jugendlichen umgehen, die über ein Jahr lang auf Abstand gehaltene Beziehungen und beschränkte Lernsituationen erlebt haben.
Mein Wunsch wäre, dass wir ein neues, noch stärker heilsames Verständnis von Schule entwickeln. Ein Unterrichten und Lernen, das im Erleben und Erfahren draußen in der Natur beginnt, den Schülern viel Raum für Bewegung, Spiel und künstlerische Aktivitäten bietet, Sozialkompetenz und den Sinn für die Gemeinschaft stärkt. In einem solchen Lernumfeld wird auch die nun forcierte Digitalisierung der Pädagogik ihren angemessenen Platz im passenden Alter finden – nicht, um sie zu beherrschen, sondern nicht von ihr beherrscht zu werden. Hier gilt es, die Waldorfpädagogik und die Waldorfschulen weiterzudenken und auszugestalten – zum Wohl der Kinder.
Zur Autorin: Dr. med. Karin Michael ist Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, Kindergarten- und Schulärztin und Co-Autorin der Kindersprechstunde.