Gewaltprävention an Waldorfschulen

Kirsten Heberer, Eva Wörner

Auf die Frage: Hat Gewalt an Schulen, egal ob körperliche oder psychische Gewalt bzw. Formen des Mobbings, in den letzten fünf Jahren nach Ihrer Einschätzung eher zugenommen, eher abgenommen oder hat sich da wenig verändert? antwortete ein Drittel: keine signifikanten Veränderungen gegenüber früheren Jahren. Allerdings beobachtete mehr als die Hälfte eine Zunahme von Vorfällen im Bereich Cyber-Mobbing. Etwa ein Drittel stellte fest, dass Mobbing und physische Gewalt unter den jüngeren Schülern (1. bis 3. Klasse) zunähmen.

»Wir sind sensibler in diesem Bereich geworden«, berichten einige Schulen. Dies liege an der zunehmenden internen und externen Schulung durch Fachleute, aber vor allen Dingen auch daran, dass sich einzelne Kolleginnen und Kollegen der Fragestellung konkret annähmen.

Die jüngst bekannt gewordenen Fälle von gewalttätigen Handlungen einzelner Lehrkräfte gegenüber Schülerinnen und Schülern an Waldorfschulen, die für Schlagzeilen sorgten, weisen auf strukturelle Defizite an den Schulen hin. Stehen wir an dem Punkt, an dem die Schüler-Lehrer-Beziehung vollkommen neu betrachtet werden muss? Wo vermischen sich private und professionelle Haltungen? Wie gut sind Distanzregeln, die sich eine Schule im Rahmen eines Schutzkonzeptes gegeben hat?

Allgemeine Überlegungen

Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf sicheres und gewaltfreies Leben, darauf, sich geborgen und respektiert zu fühlen. Das gilt für die Gesellschaft insgesamt und besonders für Lern- und Entwicklungsräume. Tatsächlich erleben oder hören wir immer wieder in unserem sozialen Umfeld oder über die Medien von Gewaltvorkommnissen. Die Reaktionen sind unterschiedlich: Werden die Vorkommnisse ignoriert, setzt sich die Gewalt fort, Betroffene fühlen sich ohnmächtig oder resignieren. Tritt man Gewalt mit mutigen Konzepten und Maßnahmen entgegen, drängt man sie zurück.

Nahezu alle Studien konzentrierten sich zunächst im Wesentlichen auf drei inhaltliche Fragestellungen: 1. Ausmaß und Erscheinungsformen von Aggressions- und Gewaltphänomenen, 2. Ursachenforschung, 3. Präventions- und Interventionsmaßnahmen (vgl. W. Schubarth: Gewaltprävention in Schule und Jugendhilfe).

Demnach erfahren 60 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in der Schule Ausgrenzung, Hänseleien oder körperliche Gewalt. Ein Viertel fühlt sich an der Schule nicht sicher (vgl. J. Dräger, Bertelsmann Stiftung).

Kinder müssen deshalb ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit sowie auf Beteiligung in Dingen, die sie betreffen, kennenlernen, so Sabine Andresen, von der Universität Frankfurt. Gewaltprävention hat in den letzten Jahren einen regelrechten Boom erlebt. Dabei hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Prävention bereits im frühen Kindheitsalter beginnen sollte. Sie ist mit der Absicht und dem Versprechen verbunden, Gewalt unter Kindern und Jugendlichen zu reduzieren und im Idealfall ganz abzuschaffen. Insbesondere in pädagogischen Einrichtungen ist man in den vergangenen Jahren gegenüber Gewalt und sexueller Belästigung bzw. Missbrauch wachsamer geworden. Fachleute sprechen davon, dass in jeder Schulklasse Kinder und Jugendliche betroffen sind; am häufigsten kommen die Täter aus dem familiären Umfeld, aus Sportvereinen oder aus der Schule. Das macht es umso schwieriger, für Klarheit und Transparenz zu sorgen.

Wer Antworten auf Gewalt finden will, muss ihre Anzeichen wahrnehmen können. Wer Prävention betreiben will, muss die Zielgruppen, ihre Bedürfnisse und Umwelt kennen. Immer noch wird die Frage »Mit wem kann ich darüber sprechen?« von Lehrern, Eltern und Schülern gestellt.
Gewalt zu vermeiden oder zu verringern, ist eine Herausforderung, der sich die Schulen als Gesamtorganisation stellen müssen. Wenn sensibles und konsequentes Einschreiten in Gewaltsituationen selbstverständlich wird, kann Schule zu einem Ort demokratischer Beteiligungskultur und gewaltfreien Miteinanders werden.

Ein Kinderschutzkonzept, das im Leitbild der Schule verankert ist, und die Einrichtung einer Vertrauensstelle können hier eine klare Verantwortungs- und Führungsstruktur gegenüber allen am Schulbetrieb Beteiligten signalisieren. Nachvollziehbare Kommunikationswege sowie die Dokumentation und Aufarbeitung stabilisieren das Vertrauen in die Leitungsgremien. Ein Schutzkonzept sollte das Kollegium stärken, weil es erlaubt, vermeintliche Tabuthemen anzusprechen. Es sollte Reflexionsräume bieten, Mobbingvorwürfe, die zum Teil inflationär auftreten, zu klären. Wie wird mit Verdachtsfällen umgegangen? Wie kann man alle Beteiligten zum offenen Austausch ermutigen?

Bei der Prävention geht es nicht um die Herstellung absoluter Sicherheit mit allen Mitteln – ein Versprechen, das ohnehin nicht einlösbar ist –, sondern um die Kultur eines gewaltfreien Miteinanders. Dieses beruht auf gemeinsam erarbeiteten Regeln, auf Verlässlichkeit und vertrauensvollen Beziehungen. Wie gehen wir mit Grenzen und Grenz­überschreitungen um, was leben wir vor und vor allem, was wünschen wir uns von den uns anvertrauten Kindern und Jugendlichen? »Leben in der Liebe zum Handeln und Lebenlassen im Verständnisse des fremden Wollens ist die Grundmaxime des freien Menschen«: Diese Maxime aus Rudolf Steiners Philosophie der Freiheit (Kap. IX) lässt sich auf den Umgang mit Grenzen und wertschätzende Haltung beziehen.

Vertrauenskreis versus Vertrauensstelle

Der Vertrauenskreis oder auch Schlichtungskreis einer Schule hat in der Regel die Aufgabe, Konflikte zu schlichten und eine gütliche Einigung herbeizuführen. Ziel ist es, durch eine neutrale Gesprächsvermittlung die Situation zu entspannen und einen nachfolgenden respektvollen Dialog zu ermöglichen und schließlich Unterstützung für eine konstruktive Lösungsfindung zu bieten. Eine Vertrauensstelle kümmert sich – im Gegensatz zu einem Vertrauenskreis – um jede Form von Gewalt. Ziel der Arbeit ist es, in der Schule ein achtsames und waches Bewusstsein im Umgang mit alltäglichen Grenzverletzungen, Übergriffen und Persönlichkeitsrechten zu entwickeln. Dazu gehören die Gewährleistung von Schutz, die Begleitung von Opfern, die Identifikation gewaltauslösender Situationen und Strukturen, die Prozessbegleitung sowie die Rehabilitation und Wiedergutmachung, denn es kommt immer wieder vor, dass Menschen zu Unrecht der Gewaltanwendung bezichtigt werden. Ein weniger bekannter Aspekt ist übergriffiges, grenzverletzendes und sexuali­siertes Verhalten von Schülerinnen und Schülern gegenüber Lehrerinnen und Lehrern – ein weiteres Tabuthema neben dem Machtmissbrauch von Erwachsenen gegenüber Kindern und Jugendlichen. Prävention in solchen Fällen heißt z.B., nicht allein im Raum mit Schülerinnen und Schülern sprechen und wenig Möglichkeiten für unklare Situationen bieten.

Lehrkräfte berichten davon, wie schwer es insgesamt ist, Gewalt und Missbrauch im geschützten Raum (z.B. im Elternhaus oder in der Schule) zu erkennen. Bei Hinweisen auf möglichen Missbrauch muss behutsam vorgegangen werden: Äußerungen des Kindes oder bestimmte Verhaltensweisen können missdeutet werden und es kann zu falschen Schlussfolgerungen kommen. Beides geht zu Lasten des betroffenen Kindes. Massive Verhaltensänderungen des Kindes (sozialer Rückzug,
sexualisiertes Verhalten, Aggression über einen längeren Zeitraum) können Anzeichen sein. Auch körperliche Veränderungen (blaue Flecken oder andere Spuren) gehören zu den Hinweisen, die man ggf. zunächst mit der Vertrauensstelle be­sprechen sollte.

Gewaltprävention in der Ausbildung

In der fachlichen Ausbildung wird es immer wichtiger, den Bereich Elternarbeit, aber auch jenen der Konfliktarbeit und Gewaltprävention in den Blick zu nehmen. Angehende Pädagogen brauchen auch hier ein »Rüstzeug«, um sich und andere zu schützen. Die Herausforderung ist klar umrissen und erfordert Respekt und Ehrlichkeit in der konkreten Situation. Es braucht Vertrauen in die Menschen und in den Prozess. Gegenseitige Unterstützung ist von zentraler Bedeutung.

Zu den Autorinnen: Eva Wörner ist Mediatorin, Dozentin am Lehrerseminar in Frankfurt und Mitglied des Bundesvorstandes. Kirsten Heberer ist Diversity-Organisationsentwicklerin und Inklusionsbeauftragte LAG Hessen.

Hinweis: 6.–7. September 2021 – »Forum Gewaltprävention an Waldorfschulen« in Oberursel. Für interessierte Lehrkräfte und Sozialpädagogen, an deren Schulen ein Kinderschutzkonzept und/oder eine Vertrauensstelle aufgebaut oder etabliert ist.

Anmeldung: schutzkonzept@waldorfschule.de

Link zu den detaillierten Ergebnissen der Umfrage (PDF-Download)