1774 schrieb Johann Wolfgang von Goethe seinen Briefroman »Die Leiden des jungen Werthers«, der ihn mit 24 Jahren über Nacht berühmt gemacht hat. Er hat darin seine eigenen Erfahrungen verwoben: seine Liebe zu Charlotte Buff, sein Leiden und seine Einsamkeit. Zeitgenössische Leser fühlten sich verstanden, sie kleideten sich wie Werther, übernahmen seine Gewohnheiten, sie liebten und litten wie er. Im Werther lebten sie selbst.
André Eisermann, bekannt geworden als Kaspar Hauser- Schauspieler, entwickelte zusammen mit dem Pianisten Jakob Vinje eine »spoken word performance«, die alle zutiefst ergreift, auch und gerade diejenigen, die bisher mit Goethes Werk nichts anfangen konnten. 1999 traten die Künstler in Wetzlar zur Wiedereröffnung des Lotte-Hauses, dem Elternhaus Charlotte Buffs zum ersten Mal auf.
Der Abend war so erfolgreich, dass Eisermann und Vinje seitdem mit ihrem Programm immer wieder auf Tournee gehen.
Beide waren auch an unserer Schule in Bremen-Osterholz zu Gast und inszenierten den Sturm-und-Drang-Klassiker. Es war eine Demonstration der Macht der Gefühle, starkes, exzentrisches, ja manisches Ausdruckstheater.
Eisermann brachte alle Facetten der Wertherschen Ausdrucksnot zum Klingen: die schwärmerische, vor Bewusstsein bewusstlose Begeisterung des Verschmelzens mit der Natur, das glückliche Aufgehen im von Lotte gelenkten Familienkreis, das Verzweifeln am eigenen starken Gefühl, dessen Ausleben die Gesellschaft verwehrt. Jakob Vinjes Klavierbegleitung beschränkte sich überzeugend auf zwei wiederkehrende Motive. Sie untermalten nicht das dramatisch sich entgrenzende Geschehen, sondern wirkten ihm als mäßigendes Vernunftmoment kontrapunktisch entgegen.
Und da hob Eisermann – tief beeindruckend – gleichsam an zu singen, zu tönen, in die einsetzende klare, lichte, einfache Klaviertonreihe hinein. Das war der stärkste Werther, den man sich denken kann.
Carsten Feldmann / Juliane Jansen
Alles liegt in der Sprache
Im Gespräch mit dem Schauspieler André Eisermann und dem Musiker Jakob Vinje über den »Werther«
Erziehungskunst | Sie sind Theaterleute – warum treten sie gerade in Waldorfschulen auf?
André Eisermann | Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es in unserem beruflichen Umfeld als Schauspieler und Musiker viele Waldorfschüler gibt. Hier finden wir unser Publikum. Und die Waldorfschulen haben diese wunderbaren Festsäle. Es sind immer Flügel und Instrumente vorhanden. Im Sprechtheater muss man dafür selbst Sorge tragen. An Waldorfschulen beeindrucken uns die Schüler. Sie schauen, hören und reden anders als andere Schüler. Sie wollen etwas Anderes. Sie sind nicht in der Schule, weil sie es unbedingt müssen, denn sie gehen gerne zur Schule. Um es uns nicht ganz so schwer zu machen, möchten wir eine Elite von Schülern in positivem Sinne haben und die finde ich ausschließlich an Waldorfschulen. Meine besten Freunde waren alle in der Waldorfschule und ich bin jemand, der es ganz toll findet, wie man dort unterrichtet. Auch Eurythmie, dieses Fach, das alle hassen – ich liebe es. Und vor allem wird dort mit der Sprache gearbeitet. Nicht umsonst sind viele Prüflinge auf der Schauspielschule ehemalige Waldorfschüler.
EK | Warum haben Sie gerade den Werther für Ihre Lesung ausgesucht?
Jakob Vinje | Werther war aktuell und ist immer noch aktuell. Sollte dieses Thema nicht mehr aktuell sein, dann stirbt die Menschheit aus. Wenn Liebe, Leidenschaft, Depressionen, Emotionen, Eifersucht nicht mehr aktuell sind, wenn all diese Sachen nicht mehr stattfinden, dann ist es endgültig vorbei. Der »Werther« ist zeitlos.
AE | Das merkt man, wenn man den Text so liest, wie er da steht und auch begreift, was da steht: »Wenn wir uns selbst fehlen, dann fehlt uns doch alles«. Gibt es eine größere Wahrheit?
EK | »Die Leiden des jungen Werther« haben zur Goethe-Zeit für große Aufregung gesorgt. Ein Roman, der den Leser den Gefühlen seiner Figur ausliefert, unmittelbar und wenig geleitet durch einen wissenden Erzähler, das hatte es noch nicht gegeben. Die Menschen waren ergriffen, verzweifelt, folgten seinem Beispiel. Wie ist das heute?
AE | Die Schüler sind berührt. Sie identifizieren sich. Doch nicht nur die Jugendlichen reagieren darauf, sondern alle Menschen. Sie reagieren phänomenal auf diese Darstellung. Und das liegt an Goethe. Die modernen Autoren können nicht so schreiben, wie diese Alten. Was ich erlebe, ist immer wieder, wie sie dasitzen mit offenem Mund, als hätten sie so etwas noch nie in ihrem Leben gesehen. Selbstmorde gibt es jedenfalls nach unseren Aufführungen keine.
EK | Und doch: Reagieren die Menschen heute nicht anders?
JV | Der Zeitgeist hat sich auf jeden Fall verändert. Heute wird das Gegenteil praktiziert. Das Private und Scheingefühle werden dermaßen herausgekehrt, dass eine Abstumpfung da ist. Reine Gefühle, leise Gefühle müssen im Grunde erst wieder geweckt werden. Und das kann in solch einer Werther-Lesung geschehen. Goethes Sprache lässt die reichen Töne unseres Seelenlebens wieder erklingen. Es ist eine universelle Sprache, die auch noch heute oder gerade heute gültig ist.
EK | … also eine Art Gegenprogramm zur verbreiteten seelischen Coolness?
AE | Ja. Man bekommt alles Mögliche geboten, gerade durch die neuen Medien, und man wird eigentlich nicht satt. Man ist hochkommunikativ und verkümmert im sprachlichen Ausdruck.
EK | Hat Werther etwas mit Ihrem eigenen Leben zu tun? Sie scheinen die Todesfiguren ja geradezu an sich zu ziehen: Werther, Kaspar Hauser, Elias aus »Schlafes Bruder«?
AE | Wissen Sie, es gibt einen großen Regisseur, den wir Gott nennen. Er gibt mir diese Stücke. Gott hat mich Schauspieler werden lassen, nicht um berühmt und reich zu werden, sondern um eine Botschaft zu vermitteln. Deswegen bin ich Schauspieler. Aber, man darf heute gar nicht mehr über solche Dinge reden. Da wird man nur belächelt und nicht für voll genommen.
EK | Promoten Sie sich selber oder haben Sie eine Agentur?
AE | Wir kümmern uns selbst. Unser Anliegen ist, in die Schulen zu gehen. Wir machen die Aufführung und wenn gewünscht am nächsten Tag die Schülerdiskussion. In Marburg kam ein Lehrer mit 180 Waldorfschülern ins Theater. Ich glaube, dass sie mehr davon haben, wenn wir in die Schulen kommen und anschließend mit den Schülern darüber diskutieren. Das macht uns sehr viel Spaß. Ich habe immer etwas Angst vor Schülern. Es ist jeden Abend überraschend für mich, dass sie uns zuhören. Sie sitzen da und sind ruhig. Ich spüre, wie sie drauf sind. Aber das ist das Wichtigste: Wir müssen die Jugendlichen da abholen, wo sie gerade stehen.
Die Fragen stellten Ariane Eichenberg und Mathias Maurer
Link: www.andreeisermann.de
Kontakt: javinje@yahoo.de