Großer Bahnhof

Henning Kullak-Ublick

2. Oktober 2010: Gestern versammelten sich im Stuttgarter Schlosspark 100.000 Menschen. Sie protestierten gegen das Abholzen der alten Platanen, die für den Umbau des Hauptbahnhofs fallen mussten. »Das Erste« widmete dem harten Vorgehen der Polizei einen eigenen »Brennpunkt« und längst hat »Stuttgart 21« auch den Bundestag erreicht. Nun kann man für oder gegen dieses Projekt sein; verblüffend bleibt, dass der Umbau eines Bahnhofs die Gemüter der ganzen Republik bewegt.

Mir drängt sich dennoch eine Frage auf: Was wäre, wenn sich die gleiche Aufregung an der Tatsache entzünden würde, dass in Deutschland die Bildungswege unserer Kinder immer noch in einem Maße von den sozialen Verhältnissen, denen sie entstammen, bestimmt werden wie in kaum einem anderen Land der OECD? Stellen Sie sich vor, hunderttausend Waldorfeltern (es gibt noch ein paar mehr in Deutschland) würden dafür demonstrieren, dass die Kinder aus unterprivilegierten Gesellschaftsschichten endlich schulgeldfrei eine Waldorf- oder andere freie Schule besuchen könnten – wäre das nicht ein wunderbarer Aufbruch in die Zivilgesellschaft?

Auch in Berlin wurde gegen »Stuttgart 21« demonstriert; zugleich sucht die Berliner Volksinitiative »Schule in Freiheit« händeringend nach Unterstützern zum Sammeln der verbleibenden Unter­schriften, die sie bis Mitte November vorlegen muss, damit sich der Senat mit ihren Vorschlägen befasst. Berliner Waldis!!! (www.schule-in-freiheit.de)

Bleiben wir aber beim großen Bahnhof: Wenn alles klappt, wird schon bald ein Sonderzug seine Fahrt von Köln aus nach Weimar, Stuttgart, Wien und zu Rudolf Steiners Geburtsort Kraljevec aufnehmen, um den 150. Geburtstag dieses unermüdlichen Bewegers zu würdigen. Ob der Zug schnurstracks zum Museum oder zu einem beweglichen »Denk mal!« wird, liegt wohl an uns. Steiner jedenfalls war niemals nur Zuschauer, sondern immer aktiver Teilnehmer am Zeitgeschehen. Das zeigt die Ent­stehungsgeschichte der ersten Waldorfschule kurz nach Ersten Weltkrieg: Es ging überhaupt nicht um die Gründung einer »privaten« Schule, sondern darum, das gesamte Schulwesen auf den Boden der Freiheit zu stellen. Innerhalb der Schule bemühten sich Steiner und das Kollegium um die Gold­deckung dieser Freiheit, indem sie das ganze Leben der Schule mit einer Menschenerkenntnis durchdrangen, die zur Inspirationsquelle für die tägliche pädagogische Arbeit wurde und dies bis heute ist. Joseph Beuys brachte diese Doppelnatur der Freiheit, die immer eine Außen- und eine Innenseite hat, so auf den Punkt: »Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt.« In Stuttgart, Berlin und überhaupt.

Henning Kullak-Ublick, Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen und bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, seit 1984 Klassenlehrer in Flensburg, Aktion mündige Schule (www.freie-schule.de)