Der 5. September 1919, ein Freitag, ist der letzte offizielle Vortragstermin des »Ersten Lehrerkurses« für die Waldorfschule. Am darauffolgenden Samstag wird noch in drei Vorträgen der Lehrplan aufgestellt, und am Sonntag ist dann der offizielle Schulbeginn. Kaum vorstellbar ist es heute, dass die 24 Teilnehmer zu diesem Zeitpunkt noch immer nicht wissen, wen von ihnen Steiner überhaupt als Lehrer ausgewählt hat – sie werden es erst am Tag vor der Eröffnung erfahren. Vielleicht ist sein langes Zögern, ihnen bestimmte Klassen zuzuweisen, ein Hinweis darauf, dass es in diesem Beruf wie in keinem anderen entscheidend ist, sich für absolut alles interessieren zu können. Steiner spricht in diesem Vortrag, wie schon in den vorangehenden, über den Körper und konzentriert sich zunächst auf das Gesicht, in dem wir als Mikrokosmos auch den dreigegliederten Menschen erkennen können: die Stirn undurchlässig und einschließend, der Unterkiefer beweglich wie die Gliedmaßen, und dazwischen die Sinnesorgane, mit deren Hilfe wir uns mit der Welt verbinden. Besonders die Nase hebt Steiner hervor, als Metamorphose der Lunge, mit der sie natürlich verwandt und verbunden ist. Das Antlitz des Menschen ist auch eine Art Visitenkarte – es ist wie der ganze Kopf in gewisser Weise dem Gestern zugehörig, so wie – in anderen Vorträgen ausgeführt – auch das denkende Vorstellen mit der Vergangenheit zu tun hat. Wir sehen in ihm die ererbte Familienzugehörigkeit. Hat man als alter Mensch ein erfülltes Leben hinter sich, so hat man vieles verändern, umgestalten können – je länger wir leben, desto mehr »bewohnen« wir unsere Gesichtszüge.
Steiner erwähnt hier, wie auch in anderen Vorträgen, immer wieder die absolute Notwendigkeit der Phantasie als pädagogische Qualität: Tomáš Zdražil weist darauf hin, dass insgesamt 27 Mal in diesem Kurs ihre befeuernde, inspirierende, zum lebendigen Denken anregende Kraft betont wird. Zu Beginn der Schulzeit bringt das Kind eine Art native Gesundheit mit, eine zunächst unbedingte Liebe zur Welt und ein ganz instinktives Handeln. Es surft gewissermaßen auf der Welle seiner Inkarnation und ist in dieser Seelenverfassung in der Lage, auch »konventionelle« Inhalte wie das Schreiben und Lesen aufzunehmen, ohne dass wir ihm damit zu viel zumuten. Die Lehrer und Erzieher verdichten sozusagen die Geistigkeit und lehren es irdische Gepflogenheiten. Wenn es älter wird und der aus der vorgeburtlichen Zeit mitgebrachte »geistige Proviant« zu schwinden beginnt, ist die gegenteilige Gebärde gefragt: Jetzt scheint die Urteilskraft, das Denken hinein. Die Instinkte dämmern ab und müssen durch Motive ersetzt werden, durch Ich-geführte Seelenaktivität. Jetzt, wo das Weltenlicht zunehmend durch das Leuchten der eigenen Seele ersetzt wird, brauchen junge Menschen lebendige Begriffe, die Gefühl und Gemüt ansprechen. So werden sie über sich selbst hinausgeführt: Sie erproben und entdecken Seiten an sich, die bisher verborgen waren. Dieser in der Kindheit begonnene Prozess der Phantasieentfaltung soll uns ein Leben lang den Horizont erweitern.
Auch für die Pädagogik ist dies ein ernster Auftrag: Wer zur Pedanterie neige, so sagt Steiner seinem Publikum, der solle seine Talente besser in einem anderen Beruf zur Wirkung bringen. Waldorflehrer und Waldorflehrerinnen hingegen müssen sich immer wieder aufs Neue mit lebendiger Phantasie ihren Aufgaben widmen.