Harte Währung

Henning Kullak-Ublick

Bis heute ist das Jahr von Ereignissen geprägt, die wir gerade erst zu verstehen beginnen. 60 Millionen Menschen sind seit Mitte September weltweit auf der Flucht, zwei Drittel von ihnen als Binnenflüchtlinge innerhalb ihres eigenen Landes. Seit dem Frühjahr beherrschen die Berichte über die Mittelmeerflüchtlinge die Medien, was zu einer europaweiten Verunsicherung führt.

Wir wissen, dass mit den Flüchtlingen auch kulturelle Konflikte auf uns zukommen. Aber welche Werte wollen wir eigentlich verteidigen – und wie? Zuallererst müssen wir uns eingestehen, dass der Wohlstand unseres Kontinents auf den geschundenen Rücken der Menschen weiter Teile dieser Welt erbaut wurde. Später wurde die koloniale Unterdrückung von einer gnadenlosen wirtschaftlichen Ausbeutung insbesondere des afrikanischen Kontinents abgelöst, heute beherrschen die globalen Finanzmärkte vollständig losgelöst von jedweder wirtschaftlichen Vernunft immer weitere Teile der Realwirtschaft und verschärfen dadurch das soziale und ökologische Elend in den Entwicklungsländern. Das zeigen die Brände in den Textilfabriken Bangladeschs ebenso wie die 748 Millionen Menschen, die keinen Zugang mehr zu sauberem Wasser haben, weil die Zugänge privatisiert und damit für sie unbezahlbar geworden sind. Und das, obwohl genug Wasser für alle da ist! Wenn wir heute immer wieder hören, man müsse zwischen politischen und »Armuts«-Flüchtlingen unterscheiden, sollten wir nicht vergessen, wer von dieser Armut profitiert.

Die Frage, welche Werte wir eigentlich verteidigen wollen, wenn »die anderen« kommen, stellt sich vor diesem Hintergrund etwas anders: Welche Werte wollen wir denn leben, damit es etwas zu verteidigen gibt? Die Gleichberechtigung der Geschlechter, die freie Meinungsäußerung, die Religionsfreiheit und die Zivilgesellschaft gehören zweifellos dazu. Aber geben wir der Welt davon auch etwas zurück? Wäre nicht der allererste Schritt, dass wir der einen Milliarde Menschen, die heute in bitterster Armut lebt, ermöglichen, von dem zu leben, was sie in und auf ihrem Land produzieren können? Wäre das nicht die elementarste Grundlage aller Freihandelsabkommen? Und wäre nicht ein weiterer Schritt, die wild gewordenen Finanzmärkte demokratisch zu kontrollieren und ein weiterer, dass wir bei den Produkten, die wir selber kaufen und den Geld­­an­lagen, die wir tätigen, die Wirkungen dieser Transaktionen mitbedenken? Wäre das nicht die Golddeckung für den Respekt, den wir denjenigen entgegenbringen, die zu uns kommen?

Wir können unsere Werte nur verteidigen, wenn sie unsere harte gesellschaftliche Währung und keine Sonntagsträume sind. Unsere Chance liegt darin, dass der kleinste Abstand dieser Welt tatsächlich in jedem Moment vor uns liegt.

Henning Kullak-Ublick, von 1984 – 2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen, den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners und der Internationalen Konferenz der Waldorfpädagogischen Bewegung – Haager Kreis.