»Was ist denn das? Wieso heilt Erziehen? So’n Quatsch! Erziehen heißt nerven, nöhlen und nix tun dürfen! Das macht doch krank, oder?« Ich blicke von meiner Zeitung auf und prüfe erstmal die Ernsthaftigkeit seiner Steilvorlage. »Ja, es gibt aber viele Kinder, die krank sind. Nicht nur körperlich, sondern auch psychisch.« Julian kontert: »Meinst Du denn, jeder, der rumzappelt, ist krank?« – »Naja, es gibt schon viele Zivilisationsschäden: falsche Ernährung, zu viel Medien, zu wenig Bewegung, Stress, oder ab in die Krippe mit drei Monaten ... Schon mal was von Wohlstandsverwahrlosung gehört?«, frage ich.
Julian kommt auf Touren: »Erziehung soll da helfen? Schwachsinn! Ich sag nur: Freiheit für die Kinder!« – »Wenn’s so einfach wäre. Kindheit ist heute eine stressige Angelegenheit – besonders für Eltern. Eigentlich bräuchten die eine besonders heilende Zuwendung. Heilend klingt doch gut«, versuche ich mich in einer Erklärung.
Julian höhnt: »Meinst Du eia poppeia, softimäßig?« – »Hör’ mal zu«, antworte ich, »Heilen ist ja etwas Schönes, heil machen heißt ganz machen. Du erinnerst Dich: ›Heile, heile Gänschen ... ‹, da ist doch was dran, geholfen hat´s bei Dir auch. Und wenn Erziehen heilt, dann ist das doch eine gute Sache ...« – »Ei, wie schön, ei, wie romantisch«, unterbricht mich Julian, »typisch Waldorf! Abgesehen von krassen Fällen: Ein bisschen Ansage, ein bisschen Dampf, ein bisschen Kante täte mancher Waldorflusche gut.« Ich versuche, ruhig zu bleiben: »Wenn Du mit Fieber im Bett liegen würdest, und ich Dir sagen würde: ›Los, steh’ auf, Du Simulant, geh’ joggen, mach’ Deine Hausaufgaben ...‹, wäre das nicht ganz angesagt, oder? Heilsam wären vielleicht Wadenwickel, und die gibt es auch bei der Erziehung.« – »Wadenwickel vom Lehrer? Verschone mich!« Ich gebe nicht auf: »Na, ich meine wenn man Unterstützung bekommt, um sich besser konzentrieren zu können oder ...« – »Heileurythmie, Sprachgestaltung und Hauschka lassen grüßen«, jault Julian auf. »Aber«, insistiere ich, »hattest Du nicht mal wegen Deiner Buchstabendreher in der Dritten ein paar Einheiten beim Förderlehrer? Geholfen hat’s ja.« – »Ist ja gut, ist ja gut, Eurem Heilerwillen scheint keiner zu entkommen. Da lohnt es sich ja richtig, einige Macken und Malaisen zu haben«, Julius schaut mich triumphierend an.
Als ich nicht gleich reagiere, schiebt er hinterher: »Heile, heile Gänschen ...«