Ich erzähle Dir von der Menschheit

Wolfgang Held

Er sei ein letzter Dinosaurier, sagt er. Aber da hat er nicht recht. In seinem Unterricht findet sich ein Zug der Waldorfschule, der zum Kern ihres Unterrichts gehört und bei Günter Boss ist es als Konzentrat zu erleben: Unterricht als große Erzählung. Der Geschichtslehrer ist zugleich ein Geschichtenlehrer. Mal breitbeinig mit verschränkten Armen, dann lässig an den Tisch gelehnt, je nachdem, wie es die Erzählung zulässt oder fordert, steht er vor der Klasse und schildert, wie Alexander der Große sein eigenes Pferd erobert. Es ist ein Pferd, so wild, dass es jeden abwirft und nun will es der junge Alexander versuchen. Doch anstatt auf­zusitzen dreht er das Pferd in die Sonne und kann sich dann tatsächlich auf dem Rücken halten. Wie Philipp, Alexanders Vater und König von Makedonien, wollen die Schüler wissen, was dieser Tanz mit dem Pferde soll. Boss wartet mit der Erklärung, bis der Spannungsbogen sitzt und zugleich nicht überdehnt ist.

Dann die Überraschung: Das Pferd, so der Königssohn zum Vater, habe sich vor dem Schatten von Ross und Reiter erschreckt, deshalb habe er es aus seinem Schatten herausgedreht. Die Elftklässler, die von sich selbst nur zu gut wissen, wie schwer es ist, Gedanke, Gefühl und Wille zusammenzubringen, hören diese kleine große Geschichte, in der Klugheit, Kraft und Mitgefühl beisammen sind. Der mutige Alexander ist zugleich derjenige, der mit dem Tier zu fühlen und ihm zu helfen vermag.

Wenn im Unterricht wenig später Alexander seinen liebsten Freund und Gefährten in Groll und Selbstüberhöhung ersticht und sich in Reue dann erst selbst findet, erscheint das Bild auf gereifter Stufe noch einmal. Das sind die Bögen im Unterricht von Günter Boss, die den Schülern, ohne dass es ausgesprochen wird, Sinn vermitteln. Es sind Bögen, die sich über tausende Jahre spannen, wenn von Alexanders Stadt- und Kulturgründungen auf seinem Feldzug und dann von der hellenistischen Bauweise von Weißem Haus und Elysee-Palast die Rede ist. Günter Boss geht es um die geistige Beheimatung seiner Schüler, ein Ideal, das er konkret fasst: Als ein Schüler zweimal aufgerufen wird, erklärt mir Boss später: »Der Schüler hat persischen und jüdischen Hintergrund. Weil es jetzt um diesen Kulturkreis geht, geht es darum, dass er seine Wurzeln versteht.« Damit leuchtet ein Gegensatz, eine Weite auf, die mir im Unterricht von Günter Boss immer wieder begegnet. Es ist der Geschichtsunterricht, in dem die großen Fragen und Entwicklungslinien der Menschheit gezeichnet werden und gleichzeitig hat der Lehrer den einzelnen Schüler im Auge, wie er sich darin finden und verwurzeln kann.

Den halben Hauptunterricht steht nicht der Lehrer, sondern es stehen einzelne Schülerinnen und Schüler vor der Klasse und ihnen gegenüber hinter der Klasse Günter Boss, der den Ball spielt: »Wie wurde Alexander zum Herrscher?« Kaum hat der Schüler die Antwort gefunden, kommt der nächste Fragepass, der gut und gerne in die Geschichtsepochen der letzten drei Jahre führen kann: »Alexander zieht durch die Osttürkei und Syrien, was war denn da vor 10.000 Jahren?« Boss setzt seinen Schülern durchaus zu, lässt nicht locker und will es oft genauer, manchmal vielleicht zu genau wissen. Die Wiederholung, das Erinnern sei das Eigentliche des Lernens, zitiert Boss Martin Heidegger. »Wenn ich mich erinnere, dann hole ich das Vergessene ins Innere zurück.« Weil man sich fortwährend weiterentwickelt, eröffnet sich, so Boss, immer eine neue Perspektive. So ist Erinnerung zugleich eine neue Schöpfung. Damit greift er vermutlich einen Grundzug des Geschichtsunterrichts auf, dass es um das Vergangene und zugleich damit um die Gegenwart und deren Zukunft geht.

Aber seine Schüler, die da vorne alleine sich bewähren sollen, wirken nicht allein. Dabei könnte der Gegensatz nicht größer sein: Sie stehen da, dreißig Augenpaare auf sich gerichtet und das Thema ist die Weltgeschichte. Und doch ist es keine Prüfung, es können sogar andere Schüler aufgerufen werden, um zu helfen. »Der einzige, der hier prüft, sind die Schüler selbst«, erklärt mir Boss. Zum anderen fällt mir auf, dass er die Schüler häufig mit ihrem Namen anspricht. Jede zweite Frage beginnt mit »Sag mal Claudia, ...«. Er steht den einzelnen Schülern gegenüber und ist ihnen doch zugewandt. Er könne zu ihrer Persönlichkeit kaum eine Beziehung aufbauen, wenn sie immer sitzen und in der Klassengemeinschaft schwimmen würden. Die eigenständige Persönlichkeit der Oberstufenschüler entfalte sich, wenn sie stehen würden und die Klasse dabei Zeuge sei.

Dabei finden sie sich, so empfinde ich es, nicht nur vor ihrem Lehrer und ihren Mitschülern, sondern vor dem Perserkönig Xerxes, vor Alexander und Aristoteles, vor dem großen Menschlichen an sich. Fünf oder sechs Schüler gehen so jeden Morgen durch dieses Examen. Dabei geht es fachlich recht streng zu und Boss fällt ihnen auch ins Wort, wenn sie in die falsche Richtung laufen oder für seine Begriffe zu ungenau sind. Das geschieht aber nicht aus Pedanterie, sondern aus Verbundenheit zur Sache. Vermutlich bleibt deshalb – trotz der Herausforderung – die Atmosphäre ungezwungen. »In der Sache führen, im Menschlichen Bruder sein und wo die Not ist, dienen«, so fasst Boss sein Credo zusammen.

Er führt gerne, zum Beispiel beim Morgenspruch: Wird ihm der Spruch zu metrisch, zu gleichförmig gesprochen, bremst oder beschleunigt er gegen die dreißig Schülerstimmen und bürstet so gegen den Strich. Dass die Elftklässler das nicht als Kraftprobe empfinden, lässt ahnen, wie solide hier das Vertrauen ist.

Die letzten Unterrichtsminuten rezitiert die Klasse Schillers Gedicht »Auch das Schöne muss sterben«. Die Elftklässler wissen, dass mit Alexanders Tod das klassische Griechenland, diese kurze Epoche großer Schönheit zu Ende ist. In Schillers Worten finden sie dazu eine geistige Perspektive, die für Günter Boss bis in die Gegenwart und weit darüber hinaus ragt: »Die Menschheit steht am Abgrund und ein Regenbogen geht auf«.

Das sagt er mir, nicht den Schülerinnen und Schülern, und doch haben sie es aufgenommen. Ein Bogen vom Wissen zur Gewissheit.