Marc Baumann erzählt im Süddeutsche Zeitung Magazin (31/13) von einem eineinhalbjährigen Jungen, der, nach seinem Namen gefragt, antwortete: »Nein«. Das Kind glaubte tatsächlich, es heiße Nein. Warum? Vermutlich weil seine Eltern kein anderes Wort so häufig zu ihm sagten. Baumann kam ins Grübeln und ließ an einem ganz normalen Tag, den er mit seinem vierjährigen Töchterchen verbrachte, das Tonband mitlaufen. Abends beim Abhören fuhr ihm der Schrecken in die Glieder. »Dauernd sage ich: Nein! Hör auf! Stopp! Wie fremd meine eigene Stimme klingt: nach Kasernenhof und trauriger Kindheit. Dreißig Mal nein und fast fünfzig Verbote! Als Erstes fällt mir auf, wie viele Neins unnötig sind.« Beispiele: »Stopp! Nicht mit Marmelade-Fingern aufs Sofa!« – »Nicht die Hände am Pullover abtrocknen!« – »Bleib sitzen, wir essen noch.« – »Schaukel nicht mit dem Stuhl!« – »Hör auf, Quatsch zu machen, wenn ich deine Zähne putze.« Und so fort. Dabei war es ein Tag, betont Baumann, »an dem ich weder schlechte Laune hatte noch mein Kind besonders wild gewesen wäre.«
Er beobachtet, dass auch andere Eltern ständig schimpfen, ermahnen, maßregeln und alles besser wissen. »Man muss nur mal drauf achten.«
Meist gibt es andere Lösungen, als »Nein!« oder »Stopp« zu bellen. Wie wär’s, die Marmeladefinger seelenruhig mit einem bereitliegenden feuchten Tuch abzuwischen? Aus dem Zähneputzen kann man ein Spiel machen: Das Kind ist Dornröschen, Papa der Prinz. Er will es wachküssen, sinkt jedoch ohnmächtig zu Boden, weil ihm atemberaubender Mundgeruch entgegenschlägt. Stuhlschaukeln? Oft genügt es, sacht den Rücken des Kindes zu streicheln. Außerdem haben wir das alle gemacht, und trotzdem ist was aus uns geworden. Hände am Pullover abtrocknen? Geschenkt! Aufspringen vom Tisch? Kinder sind Kinder. Im Übrigen kann eine spontan erfundene kleine Geschichte Wunder wirken. Mehr Gelassenheit, Leute! Mehr Humor! Mehr Phantasie!
Ich bin Baumann dankbar für seinen sympathisch selbstkritischen Weckruf. Es heißt ja immer, die heutigen Eltern versäumten, den Kindern Grenzen zu setzen. Das stimmt so nicht. Tatsächlich ist gedankenloses Herumnörgeln an jeder Kleinigkeit ein verbreiteter erzieherischer Umgangston. Weitaus verbreiteter als noch vor 20, 30 Jahren. Kinder, die immerfort mit größtenteils überflüssigen Neins zugetextet werden, sind in Gefahr, der pädagogischen Führung zu entgleiten. Manche schalten einfach auf Durchzug.
Kommt dann ein berechtigtes, notwendiges Verbot, erreicht es sie nicht. Andere reagieren paradox. Ermahnungen wirken bei ihnen wie positive Verstärker: anstachelnd. Jetzt wird’s richtig ungemütlich. Verneinung klingt in den Ohren dieser Kinder wie Bejahung. Weil sie das Gefühl haben, Nein zu heißen.
Übrigens: Zum Thema gibt es ein erfrischendes Buch: Toni Feldner, Genug erzogen!: 25 Gründe, warum Eltern loslassen sollten