Wo kann ich mein Ich verorten, wenn ich ein anderes Ich als Ich wahrnehme? Bestimmt nicht nur irgendwo in meinem Organismus, in meinem Inneren; wie wäre sonst eine echte Offenheit und Wahrnehmung dem anderen Ich gegenüber möglich? Genauso kann ich mein Ich auch nicht nur irgendwo außerhalb von mir, im Äußeren, verorten; wer würde sonst in meinem Organismus, in meinem Inneren der Wahrnehmende sein?
Tatsächlich kann ich in der Wahrnehmung eines anderen Ich mein Ich weder nur innen noch nur außen verorten.
Kann ich mein Ich im Ereignis der Begegnung mit einem anderen Ich überhaupt verorten? Wenn ich vorurteilslos wahrnehme, lautet die Antwort eindeutig: Nein! Als Ich bin und wirke ich in der Wahrnehmung eines anderen Ich also jenseits von innen und außen, jenseits von Identität mit meinem und mit dem anderen Ich, aber auch jenseits jeglicher Trennung vom anderen Ich: Unverortbar, das heißt, jenseits jeglicher begrenzenden Bestimmung, bin und wirke ich als wahrnehmendes Ich, das einem anderen Ich begegnet. Diese Grenzenlosigkeit, diese Freiheit, bedeutet wiederum uneingeschränkte Offenheit und Empfänglichkeit in der Wahrnehmung des anderen Ich. Genau diese empfangende Offenheit, die als Gebärde der Liebe empfunden werden kann, wirkt nicht nur in der Begegnung mit einem anderen Ich, sondern in jeder wahrnehmenden Begegnung mit einem anderen Wesen, gleichgültig ob Mensch, Tier, Pflanze oder Mineral. Wie könnte ich ohne diese uneingeschränkt empfangende Unverortbarkeit, ohne diese in meinem Ich veranlagte Freiheit und Liebe, das andere Wesen in seiner Wirklichkeit wahrnehmen, so dass das andere Wesen seine Individualität mir offenbaren kann?
Den Sinn als Wirken des Ich betrachten
Wir sind es nicht gewöhnt, unseren Sinnesorganismus als Organismus der Freiheit und der Liebe zu erleben. Die Anregung zu diesem Erleben – eine Anregung, die natürlich nicht nur Erziehungskünstler interessiert – ist in einer bisher kaum oder überhaupt nicht beachteten Bemerkung Rudolf Steiners in einer unvollendeten Studie über Hören und Sprechen enthalten. Dort wird der Typus, das heißt das Urbild eines Wahrnehmungsorgans, mit der Tätigkeit verbunden, durch die ein Ich »in sich das Bild eines gleichen fremden Ichs gegenwärtig machen kann«. Dies bedeutet die Einladung dazu, den Sinnesorganismus sowie die Sinnesorgane nicht mehr ausgehend von einer auf Reiz und Reaktion fußenden Dynamik des Tastens zu verstehen. Urbild ihrer Tätigkeit ist hier die Tätigkeit eines Ich, das einem anderen Ich so begegnet, dass es in sich das Bild des anderen Ich vergegenwärtigen kann. Alle Wahrnehmungen und Wahrnehmungsorgane des Menschen sollen demzufolge als Annäherungen an die Gebärde und die Qualitäten betrachtet werden, die das Ich durch diese tätige Vergegenwärtigung des anderen Ich offenbart.
Das soeben Gesagte impliziert eine Umkehrung der Perspektive, eine Revolution in der herkömmlichen Betrachtung der Sinne und des Sinnesorganismus. Weg von einem Tastorganismus, der sich ausgehend von Reizen und Reaktionen bildet, hin zu einem Organismus des Ich, der sich durch die empfangende, grenzenlose Unverortbarkeit des Ich gestaltet; weg von einem Organismus, in dem mein Ich als verortbarer, abgegrenzter, in sich geschrumpfter Punkt wirkt – der wie eine Zielscheibe von Reizen getroffen wird, auf die es wie ein Gummiball reagiert –, hin zu einem Organismus, in dem mein Ich sich als Mitte aus geistiger Wärme und geistigem Licht der Begegnung mit anderen Wesen uneingeschränkt öffnet, als eigene wesenhafte Anlage Freiheit und Liebe offenbarend. Ist der dadurch vorausgesetzte Organismus der Freiheit und der Liebe nicht eine authentisch menschliche Wirklichkeit, die jede Begegnung zu einem gemeinschaftsbildenden Augenblick verwandeln kann? Würde die Vertiefung der Sinneswahrnehmung, die durch das Bild dieses Organismus ernährt wäre, nicht eine schöpferische Revolution sowohl auf jeder Stufe der Erziehung als auch in jeder sozialen Dynamik bewirken? Und wäre diese Revolution nicht die beste Grundlage, um die wichtigste technologische Revolution der letzten Jahrzehnte, die digitale Revolution, in Zusammenklang mit der Menschenwürde zu gestalten?
Ein digitales Surrogat des Ich?
Wollen wir den Sinnesorganismus als Organismus des Ich, beziehungsweise das Ich als Urbild der Wahrnehmungsorgane ernst nehmen, kommen wir zu einer wichtigen Wahrnehmung in Bezug auf die Begegnung mit einem anderen Ich, die durch das Digitale vermittelt wird: In dieser Begegnung übernimmt das Digitale genau die entscheidende Tätigkeit, die das Ich in der Begegnung mit einem anderen Ich bewirken kann und sollte. Denn hier ist es nicht das wahrnehmende Ich, das ausgehend vom eigenen Sinnesorganismus »in sich das Bild eines gleichen fremden Ichs gegenwärtig« macht. Das Ich und sein Sinnesorganismus wirkt in diesem Fall nämlich nicht als Ursprung jenes Bildes. Das Bild des anderen Ich wird durch das Digitale erzeugt, projiziert und vom wahrnehmenden Ich ohne eigene schöpferische Tätigkeit als schon vorgefertigt empfangen. Das Digitale erregt somit – vornehmlich wenn es bis ins Visuelle eindringt – den sich bis ins Illusorische steigernden Eindruck, das wahrnehmende Ich sowie seinen Sinnesorganismus in der Vergegenwärtigung des Bildes vom anderen Ich vollkommen ersetzen zu können. Umso illusorischer wird dieser Eindruck, je mehr das Digitale direkt in den Tätigkeitsbereich des Ich als Urbild der Wahrnehmungsorgane eingreift, das Ereignis der Ich-Begegnung immer realistischer nachbildend und vermeintlich reproduzierend. Je realistischer die vermeintliche Reproduktion und je häufiger die Begegnung mit ihr, desto mehr kann sich das wahrnehmende Ich vom eigenen Wirken ablenken, und sich letztendlich seine Tätigkeit abgewöhnen.
In der Begegnung mit einem anderen Ich, die sich in der Wärme und im Licht des physischen Raumes ereignet, wirkt der ganze Sinnesorganismus als Organismus des Ich. Das wahrnehmende Ich wirkt hier, jenseits jeglicher Trennung von innen und außen, als unbeschränkt offene, grenzenlose geistige Mitte, die durch eine Gebärde der Freiheit und der Liebe dem anderen Ich begegnet: Augenblicklich öffnet das Ich selbst einen Raum für die Vergegenwärtigung des Bildes vom anderen Ich, und zugleich vergegenwärtigt es durch den eigenen Sinnesorganismus jenes Bild in Zusammenklang mit der Tätigkeit des anderen Ich. In der digitalen Begegnung wird das wahrnehmende Ich, im Gegensatz dazu, zu einem in sich geschrumpften, fest verortbaren, passiven Punkt: Das Digitale projiziert auf diesen Punkt ein vorgefertigtes Bild des anderen Ich – das keines ist –, und der Punkt reagiert im Stimulus-Reaktions- beziehungsweise Input-Output-Modus.
Das Digitale als Werkzeug, nicht als Werkmeister begreifen
Predigen die vorausgegangenen Betrachtungen eine Feindschaft gegen das Digitale? Keinesfalls! Sie möchten zu einer vorurteilslosen, auf den Phänomenen begründeten Wahrnehmung anregen, was das Digitale auf keinen Fall ersetzen kann. Dieses Unersetzbare ist ein gesund und stimmig durch Kindheit und Jugend entwickelter Sinnesorganismus, der durch die Begegnung mit der physisch irdischen Wirklichkeit als Organismus des Ich wirken lernt: Als Organismus, der durch die schöpferische Offenheit, die das Ich im Physisch-Irdischen übt, den fruchtbarsten Grund und Boden für die Offenbarung von Freiheit und Liebe, und mithin für jede Form der harmonischen Gemeinschaftsbildung schenken kann. Ohne die Wachsamkeit, die im wahrnehmenden Menschen durch einen solchen Organismus bewirkt wird, wird das Digitale immer mehr zur Quelle aller möglichen Suggestionen und Illusionen werden. Ohne diese Wachsamkeit wird das Digitale die Menschen immer mehr von der digitalen Ersetzbarkeit des Menschen, des Ich, der Freiheit und sowieso jeglicher Erziehung und Bildung überzeugen können, die in der gesund physischen Begegnung zwischen Menschen eine für die Menschen unverzichtbare Grundlage wahrnimmt. Nur wenn wir für Kinder und Jugendliche das unantastbare Recht auf eine physisch-irdische Entwicklung des Sinnesorganismus als Organismus des Ich achten und schützen, wird sich das Digitale als Begleiter und Diener, nicht als Vernichter der Menschenwürde erweisen. An sich ist das Digitale weder gut noch böse, da es ein durch den Menschen geschaffenes, unstoffliches Werkzeug ist. Diese Binsenwahrheit wird zu häufig vergessen, so dass pseudoreligiöse Suggestion und Missionierung oder vorurteilsvolle Angst die Begegnung mit dem Digitalen prägen, in der Begegnung das authentisch, schöpferisch Menschliche ausschaltend. Das authentisch Menschliche kann nur durch den ganzen Sinnesorganismus vermittelt werden, der als Organismus des Ich wirkt. Im Unterschied zu allen früheren Werkzeugen kann das Digitale jedoch als Abbild nicht nur eines oder mehrerer Sinne und Organe, sondern – wie seine rasanten Fortschritte zeigen – des ganzen Sinnesorganismus wirken. Deshalb ist seine stimmige, menschenwürdige Anwendung so schwierig! Um so dringender erweist sich hier eine harmonische Erziehung und Bildung eben des ganzen Sinnesorganismus. Denn es handelt sich hier um die schwierigste Kunst: Um die soziale Kunst des Ich, das als gemeinschaftsbildendes Gesprächswesen durch Freiheit und Liebe die ganze Erde fruchtbar verwandeln kann. Das Digitale wird diese Verwandlung produktiv begleiten können, wenn es mächtiges, jedoch zugleich bescheidenes Werkzeug bleiben wird: Werkzeug der Freiheit und der Liebe; Werkzeug eines Sinnesorganismus, der als Organismus des Ich, und deshalb als Organismus des Herzens leben und wirken kann.
Salvatore Lavecchia ist Professor für Philosophie und Dozent sowie Mitglied des wissenschaftlichen Beirats innerhalb des Masters »Meditazione e Neuroscienze« an der Universität von Udine (I).