Erziehungskunst | Wie ist die Chirophonetik entstanden?
Dieter Schulz | Alfred Baur* arbeitete mit einem dreijährigen Jungen, der nicht sprach, und er fragte sich, wie er die Wahrnehmung des Kindes verstärken könnte, um seinen Nachahmungswillen zu wecken. Er hatte den Eindruck, dass das Kind die Sprache direkt am Leib erfahren müsse und fragte sich, was geschieht beim Sprechen? Welche Luftformen entstehen, wenn wir die einzelnen Laute artikulieren? Es gelang ihm, diese Formen klar nachvollziehbar graphisch darzustellen. Die andere Frage, wie diese Formen nun auf den Gesamtorganismus übertragen werden könnten, beantwortete er aus der praktischen Anwendung der Metamorphosegesetze, die er in seinem Buch Lautlehre und Logoswirken detailliert beschreibt.
EK | Wie werden die Sprachlaute gebildet, wie wird die Form zu dem jeweiligen Laut gefunden?
DS | Jeder einzelne Laut, den wir sprechen, hat eine charakteristische Luftströmungsgestalt, die während des Sprechens entsteht. Wird zum Beispiel ein »L« artikuliert, so drückt die Zungenspitze einen ganz bestimmten Punkt hinter den Schneidezähnen. Die Luft steigt während der Artikulation des »L« auf, umströmt die Zunge von beiden Seiten und entweicht dem Mund. Der Punkt hinter den Schneidezähnen findet sich metamorphosiert zwischen den Schulterblättern. Die Zeichnung zeigt, wie vom unteren Rückenbereich das »L« aufwärts gestrichen wird. Je nachdem, an welcher Stelle des Sprachorganismus der Laut artikuliert wird, findet sich diese Artikulationsstelle am Gesamtorganismus wieder. Diesen Entsprechungen liegt das Gesetz der von Goethe beschriebenen und von Rudolf Steiner weiter entwickelten Metamorphose zugrunde. So haben zum Beispiel Laute, die im Bereich des weichen Gaumens gebildet werden, ihre Entsprechung im Bereich des Bauches oder des unteren Rückens.
EK | Wie gestaltet sich das in Ihrer Praxis?
DS | B., ein zehnjähriger Junge, fiel in der Schule wegen Konzentrationsstörungen und hyperaktivem Verhalten auf. Der Junge besaß eine sogenannte sulfurische Konstitution, die Steiner im »Heilpädagogischen Kurs« beschreibt. Menschen mit einer solchen Konstitution neigen durch den erhöhten Schwefelanteil in ihrem Organismus dazu, schnell zu vergessen. Denkt man an Schwefelhölzer, so ist das stichflammenartige Versprühen nach außen typisch.
Durch die Tastsinnerfahrung während der Behandlung sollte B. sich seiner Körpergrenzen stärker bewusst werden. Ich wählte zum einen Laute, die eine umhüllende, schützende Wirkung haben, zum Beispiel das »M«; zum anderen Laute, die die Konzentration unterstützen und zu einer verstärkten Selbstwahrnehmung führen. B. mochte die chirophonetischen Anwendungen sehr gerne. Als sein Öl wählte er eines mit Zitronenaroma. Innerhalb von etwa vier Monaten zeigte B. ein erhöhtes Konzentrationsvermögen und es fiel ihm leichter, bei sich zu bleiben. Die Eltern führten die Behandlung viermal die Woche durch. Nachdem B. sich gefestigt hatte, vereinbarten wir, dass er nur noch nach Bedarf oder auf seinen eigenen Wunsch Chirophonetik bekommt.
EK | Welches sind die Anwendungsgebiete der Chirophonetik?
DS | Sie ergeben sich daraus, dass wir durch die Arbeit am Körper direkt auf alle zwölf Sinne des Menschen wirken. Die Laute haben auch eine Beziehung zu den Elementen und damit zu den Temperamenten. Je nachdem, was einem Menschen fehlt, kann man ihm das auf der Lautebene chirophonetisch vermitteln. Die Chirophonetik wirkt dadurch auf das Verhalten des Menschen und kann in allen Lebensaltern angewendet werden. Alfred Baur veröffentlichte beim Verlag »Soziale Hygiene« ein Heft mit dem Titel: Chirophonetik-Therapie durch Laut und Berührung. Wir haben diese Schrift aktualisiert im Verlag »Gesundheit Aktiv« veröffentlicht. Darin werden folgende Anwendungsgebiete beschrieben: verzögerte oder fehlende Sprachentwicklung, Sprachverlust, Mutismus, Redeflussstörungen, Schwerhörigkeit, Entwicklungsverzögerungen, Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungsstörungen, herausforderndes Verhalten, psychosomatische und chronische Krankheiten in Zusammenarbeit mit Ärzten, Begleitung alter Menschen zur Stärkung im Sinne der Salutogenese.
Seit 1985 habe ich umfangreiche Erfahrungen mit der Chirophonetik im Rahmen meiner heilpädagogischen Praxis gesammelt. Ich war von den Ergebnissen oft berührt. In die Liste der Anwendungen möchte ich ausdrücklich ADHS aufnehmen. Die Erfahrungen mit der Chirophonetik sind bei ADHS ermutigend.
EK | Wo kann man eine Chirophonetik-Ausbildung machen?
DS | Die Ausbildung findet in acht Wochenkursen in Kassel und Bad Boll statt, die auch als Halbwochenkurse angeboten werden. In der Regel dauert die gesamte Ausbildung zweieinhalb Jahre. Neben den Lautformen und der Wirkung der Laute lehren wir auch das Streichen der klassischen griechischen Rhythmen mit ihren differenzierten Wirkungen auf den Menschen. Desweiteren werden in den Kursen menschenkundliche Themen behandelt, insbesondere die Sinneslehre, ihr Verhältnis zu den Wesensgliedern sowie ihre diagnostischen und therapeutischen Aspekte.
Zum Gesprächspartner: Dieter Schulz ist Heilpädagoge, Biografieberater und Supervisor (WIT, Universität Tübingen) und arbeitet in freier Praxis, Dozent an der Schule für Chirophonetik und Gastdozent an der Höheren Fachschule für Heil- und Sozialpädagogik in Dornach, am Camphill-Seminar in Frickingen und anderen Ausbildungsstätten.
Literatur:
A. Baur: Lautlehre und Logoswirken, Stuttgart 1996 | A. Baur: Chirophonetik. Therapie durch Laut und Berührung, Berlin 2011 | D. Schulz: Besondere Wege, Stuttgart 2012
* Dr. Alfred Baur wurde 1925 in Wels, Österreich geboren, studierte zunächst Maschinenbau, nach dem Kriegsdienst und russischer Gefangenschaft Philosophie, Geschichte und Germanistik in Graz. Während der Studienzeit begegnete er der Anthroposophie. Nach dem Studium und der Dissertation arbeitete er in verschiedenen heilpädagogischen Einrichtungen. Ab 1953 baute er gemeinsam mit seiner Frau Ilse eine heilpädagogische und sprachtherapeutische Ambulanz in Linz auf und entwickelte seit 1972 die Chirophonetik. Baur starb 2008.