Erziehungskunst | Wofür steht die individuelle Impfentscheidung? Was will der Verein und warum braucht unsere Gesellschaft das?
Stefan Schmidt-Troschke | Auch wenn das sprachlich oft nicht wirklich unterschieden wird: Es gibt einen großen Unterschied zwischen »Prävention« auf der einen und »Gesundheitsförderung« auf der anderen Seite.
Prävention setzt dort an, wo es um die Verhinderung von Krankheit geht, um die Vermeidung eines Risikos. Der Anschnallgurt im Auto z.B. fördert weniger unsere Gesundheit, als dass er uns daran hindert, im Falle eines Unfalls geschädigt zu werden. Impfungen gehören zu den präventiven Maßnahmen. Sie verhindern eine Infektion, wie bei Tetanus, oder eine Ansteckung durch andere Menschen. Es handelt sich um Maßnahmen, die vielfach für gesamte Bevölkerungen empfohlen werden. Menschen, die Impfungen erhalten, sind meist gesund. Jede Impfung ist ein Eingriff in den Körper. Zu den größten Errungenschaften unserer medizinischen Ethik nach den Menschenversuchen im Nationalsozialismus gehört die Verpflichtung auf einen sogenannten »Informed Consent«, das heißt, die notwendige informierte Zustimmung zu medizinischen Maßnahmen durch die Betroffenen. Insofern sollte niemand, außer in sehr besonderen Situationen, weder direkt noch indirekt, dazu gezwungen oder gedrängt werden können, sich impfen zu lassen.
Impfungen müssen einzeln für sich betrachtet werden. Tetanus z.B. ist eine Krankheit, die nicht von Mensch zu Mensch übertragen wird. Die Entscheidung darüber, ob sich jemand gegen Tetanus impfen lässt, ist ähnlich der, eine Schutzausrüstung anzuziehen, wenn man sich bestimmten Gefahren aussetzen will. Hier ist primär die individuelle Verantwortung angesprochen. Eine Impfung gegen Masern hat einen anderen Charakter. Sie schützt vor einer Erkrankung, die so ansteckend ist, dass sich durchschnittlich neun von zehn ungeschützten Menschen in der nahen Umgebung eines Kranken anstecken. Hier also geht es sowohl um den Individualschutz, als auch um den Schutz der Anderen. Selbst wenn das so ist und die Masern eine durchaus gefährliche Erkrankung sein können, so ist es gelungen, annähernd 95 Prozent der Eltern heute davon zu überzeugen, dass eine Impfung gegen diese Erkrankung sinnvoll ist.
Wir setzen uns daher seit Jahren dafür ein, dass Impfungen immer Gegenstand einer freien und individuellen Entscheidung bleiben. Wird transparent und ehrlich informiert und wird die Bevölkerung in ihren möglichen Bedenken erst genommen, so können Impfungen einen Großteil der Bevölkerung erreichen. Leider haben wir mit dem Masernschutzgesetz nun eine Situation, die hier ohne Not die Grenze überschreitet: Seit dem 1. März 2020 gilt: Ohne eine Masernimpfung keine Kita oder keine Schule. Wir halten dieses Gesetz für verfassungswidrig. Als Verein unterstützen wir die Verfassungsklage einiger Eltern gegen dieses Gesetz und hoffen auf eine Entscheidung noch in diesem Jahr. Das Ergebnis wird auch für die Durchsetzung einer – derzeit ja immer wieder diskutierten – direkten oder indirekten Impfpflicht gegen SARS-Covid-19 eine große Rolle spielen.
EK | Impfen simuliert eine Infektion, ohne krank zu machen. Aber macht impfen auch gesund?
SST | Interessanterweise lassen sich sogenannte »unspezifische Effekte« für bestimmte Impfungen nachweisen. Peter Aaby, ein dänischer Forscher, hat diese These am Bandim Health Project in West Afrika in den 1990er Jahren erstmals formuliert. In mehreren Beobachtungsstudien konnte er zeigen, dass Kinder, die früh und primär gegen Masern geimpft worden waren, bessere Überlebenschancen hatten, unabhängig davon, ob später sie an Masern erkrankten oder nicht. Auch gibt es belastbare Hinweise darauf, dass der alte und in Deutschland noch bis in die 1990er Jahre verwendete inaktivierte Lebendimpfstoff gegen Tuberkulose (BCG) einen schützenden Effekt besitzt gegenüber dem Auftreten von Allergien.
Diese Frage hat etwas mit unserer Auffassung von Gesundheit zu tun. Wollen wir Gesundheit als »Abwesenheit von Krankheit« verstehen oder als eine aktive Leistung unseres Organismus in seinen verschiedenen Dimensionen? Impfungen können helfen, Krankheit zu verhindern, manchmal können sie uns auch zu mehr stimulieren.
EK | Was macht also wirklich gesund und was hat das mit dem freien Individuum zu tun?
SST | Das Auftreten von Infektionskrankheiten ist eng verbunden mit unserer menschlichen Immunität. Zunächst drückt sie sich aus in Antikörpern oder in der Fähigkeit bestimmter Zellen, auf Bedrohungen durch bestimmte Erreger zu reagieren. Robert Koch, Kollege von Rudolf Virchow an der Charité und Namensgeber des Robert-Koch-Instituts (RKI), sagte bei seinem Nobelpreis-Vortrag zum Beziehungsverhältnis von Krankheitserreger und Menschen: »Das Bakterium ist nichts, der Wirt ist alles.«
Ja, wir als »Wirte« sind es mit unserem Immunsystem, die eine Infektion entweder zu uns hereinlassen, oder eben nicht. Neben unserer biologischen Konstitution wird unsere Immunität sehr stark von unserem Stress, von unseren Ängsten geprägt und davon, wie gut wir sozial eingebunden sind. Obendrein ist all dies wieder eingebettet in unsere Fähigkeit, mit diesen Emotionen, aber auch den Belastungen durch die Um- und Mitwelt umzugehen, was wir heute auch »Resilienz« nennen.
EK | Im Kern der Debatte um die Masern-Impfpflicht und die Corona-Impfung stehen sich individualistische und kollektivistische Ansätze der Krankheitsbekämpfung gegenüber. Was zeichnet ein Gesundheitssystem aus, das diese Gegensätze integriert?
SST | Im 19. Jahrhundert, an dessen Ende die bismarckschen Sozialreformen und die Einführung der gesetzlichen Krankenkasse standen, ging es für die angehende Industriegesellschaft zunächst einmal darum, Sicherheit im Sinne einer bis dahin nicht vorhandenen Daseinsfürsorge zu schaffen. Neben dem großen Segen, den uns diese Sicherheit in Mitteleuropa gebracht hat, dürfte es heute darum gehen, Menschen weniger zu bevormunden, als sie aktiv einzubinden in die Gestaltung ihrer Gesundheit. Wir sollten die abstrakte Diskussion zwischen individuellen und gesellschaftlichen Interessen stärker den Menschen lokal überlassen.
Zwischen 80 und 90 Prozent von dem, was wir heute als unsere Gesundheit bezeichnen, ist Ergebnis unserer Art, mit uns selber umzugehen in der Auseinandersetzung mit unserem Körper und in der Begegnung mit anderen Menschen. Ein Gesundheitswesen der Zukunft braucht daher einen neuen Dialog mit den Menschen, auch darüber, wie sie sich präventiv schützen und aktiv in ihrer Gesundheit fördern können und es muss Anschluss suchen an die Kultur und die Lebensumstände, die das soziale und wirtschaftliche Umfeld mit sich bringen.
EK | Welche Grundideen wären für ein solches Gesundheitssystem ausschlaggebend?
SST | Es sollte stärker von den Bürgern aus impulsiert und gestaltet werden. Am Ende dient dieses System ihnen, auch wenn man manchmal den Eindruck hat, es sei umgekehrt. Menschen, die ein gesundes Leben führen, Menschen, die eine schwere Krankheit durchgemacht haben oder durchmachen, verfügen über eine viel größere Kompetenz, Probleme im System aufzuzeigen, als viele Ärzte oder Funktionäre. Um einige Punkte zu nennen:
- Das gesamte System sollte stärker von unten, d.h. regional und in Assoziation mit den Beteiligten vor Ort abgestimmt gestaltet werden.
- Wir sollten gemeinsam klären, dass das Gesundheitswesen nicht primär wirtschaftlichen Interessen dient, sondern der Daseinsfürsorge. Das bedeutet u.a., Krankenhäuser und Pflegeheime sollten sich selber gehören, sprich ihren Nutzern und Mitarbeitern im Sinne eines Verantwortungseigentums bzw. einer Gemeinwohlökonomie.
- Gesundheit ist ohne Bildung nicht denkbar. Wir brauchen eine gute und unkomplizierte Verschränkung des Gesundheitswesens mit Bildungsinitiativen: Sprichwörtlich muss die Praxis zukünftig Bildungseinrichtung werden. Ärzte sollten weniger Rezepte schreiben, als Menschen zuhören und ihnen eigene Bildungsimpulse zu geben. Umgekehrt sollten Lehrer lernen, wie Bildung selber zu einem ständig neuen Heilungsprozess werden kann und wie sie eine gesunde Selbstregulation pflegen und vermitteln können.
- Krankenkassen sollten stärker untergliedert und durch die Versicherten mitgestaltet und verantwortet werden. Dann können sie zu einer wirklichen Bürgerversicherung werden.
Wir sollten heraus aus den verbandlichen Strukturen, die vielfach nur der Absicherung von wirtschaftlichen Interessen einzelner Gruppen dienen. Je realer die Begegnung von Verantwortlichen mit der erlebten Realität betroffener Menschen ist, desto mehr wird möglich.
EK | Die Übertragung von Erkrankungen aus dem Tierreich auf den Menschen zeigt, dass unsere Gesundheit auch von unserer natürlichen Umwelt – des Bodens, der Pflanzen und Tierwelt – abhängig ist. Wie sieht ein Gesundheitssystem aus, das die Gesundheit der Umwelt mitberücksichtigt?
SST | Eine angemessene und zeitgemäße Gesundheitsförderung beginnt damit, ob und wie wir lernen, unsere Umwelt wahrzunehmen und sie mit uns selber in Beziehung zu setzen. In der Waldorfpädagogik wird das »Weltbegegnung« genannt. Das gesamte Curriculum ist daran orientiert, ein staunend wohlwollendes Welt- und Naturverhältnis anzuregen. All dies ist sehr wertvoll, braucht aber vielleicht auch eine gewisse Modernisierung und auch einen zeitgemäßen Blick auf die Herausforderungen. Heute ist viel von »Achtsamkeit« und ihrer Förderung die Rede. Gelingt es uns, achtsam in Beziehung zu treten mit den Phänomenen der Natur, so ist dies quasi die Außenseite einer achtsamen Beziehung zu uns selber. Wenn wir es vermögen, neu zu staunen über die Erde und das, was sie uns schenkt, dann können wir Haltungen fördern, aus denen das Bedürfnis wird, die Erde zu pflegen. Es erschließt sich eine spirituelle Dimension, die Rudolf Steiner einst als Ausgangsebene beschrieben hat für die geistige Entwicklung des Menschen. Hier brauchen wir Bildungszusammenhänge, die das nötige Klima dazu ermöglichen, ohne ideologisch zu vereinseitigen.
EK | Der französische Präsident Macron hat zu Beginn der Pandemie vom »Krieg gegen das Virus« gesprochen. Ist dieser Gesundheitsbegriff auf der Höhe der Zeit?
SST | Gesundheit kann nicht wirklich entstehen aus einem Kampf gegen etwas. Die Kriegsrhetorik ist ein Zeichen dafür, dass wir den Menschen und die Natur vergegenständlicht haben und in eine Art Machbarkeitswahn verfallen sind, wenn wir z.B. von »Ausrottung« sprechen. Gesunde Entwicklungen brauchen Bedingungen, innere und äußere. Dazu gehört sicherlich auch die Hygiene. Aber der entscheidende Punkt scheint mir zu sein, Gesundheit als die Fähigkeit zu einer Art schöpferischer Selbstregulation aufzufassen und dazu, mit den Herausforderungen kreativ und gezielt umzugehen. Auf einer Metaebene gesprochen heißt das: Das Potenzial des eigenen Werdens spüren lernen.
Link: www.gesundheit-aktiv.de