Was kann ich überhaupt noch glauben? Die Frage, woher ich meine Überzeugungen beziehe und wie ich über richtig oder falsch urteile, ist längst zum Politikum geworden. Von ihrer Beantwortung hängt das Überleben der Menschheit ab.
Schaut man sich die Entwicklung auf diesem Gebiet an, so kann man den Eindruck gewinnen, dass Pessimismus und Resignation in Bezug auf die Lernfähigkeit der Menschheit unausweichlich sind. Roger Harrabin jedenfalls, Umweltreporter der britischen BBC, bekennt: «Ich bin froh, dass ich bis Mitte des Jahrhunderts unter einem Baum begraben liegen und es nicht mehr herausfinden werde [ob die Umweltschützer:innen recht behalten werden; Anm. d. Verf.]. Unter anderem verweist er als Grund für seine Skepsis auf die Desinformationsbemühungen der Global Climate Coalition (GCC), eine 1989 in den USA gegründete Lobbyvereinigung, die Einfluss auf politische Entscheidungsträger nehmen wollte, um Maßnahmen zur Begrenzung der Emissionen fossiler Brennstoffe zu verhindern.
Eine halbe Million Dollar pro Jahr nutzte das Team des Vaters der Umwelt-PR, E. Bruce Harrison, für eine Kampagne, die äußerst erfolgreich Zweifel an der Wissenschaft des Klimawandels säte, deren Folgen wir heute noch erleben. Die im Juli 2022 erschienene BBC-Dokumentation Big Oil gegen die Welt belegt dies in erschreckend eindrucksvoller Weise. Mit entsprechenden Methoden lassen sich heute unter Verwendung der Sozialen Medien jegliche Erkenntnisse der Wissenschaft in Zweifel ziehen oder gar in ihr Gegenteil verkehren. Der Umweltaktivist und ehemalige Geschäftsführer von Greenpeace, John Passacantando, zog das resignierte Fazit: «Wenn Sie etwas oft genug sagen, werden die Leute anfangen, es zu glauben.»
Die Technik wird uns nicht erlösen
Zu einem ganz ähnlichen Resümee kommt, wer sich die positiven Visionen aus den Anfängen des Internets in Erinnerung ruft und sie mit der heutigen Wirklichkeit vergleicht. Tim Berners-Lee, der Gründer des World Wide Web, hat vor dreißig Jahren als unverbesserlicher Optimist und Altruist seine geniale Idee nicht patentieren lassen, sondern frei weitergegeben – zum Wohle der Menschheit. Heute ist er am Boden zerstört: Nicht die offene Plattform mit gleichem Rederecht für alle und freiem Zugang zu Informationen für einen konstruktiven, grenzüberschreitenden Gedankenaustausch zur Verbesserung der Welt hat sich entwickelt, sondern ein Werkzeug, das Hass und Gewalt, Betrug, Erpressung, geklaute Daten, manipulierte Wahlen, Fake News und schließlich die übermäßige Macht der Tech-Giganten wie Amazon, Facebook und Google möglich gemacht hat. Inzwischen hat auch der Solutionismus seine Verheißungen nicht einlösen können. Diesen Begriff prägte 2013 der belarussische Publizist Evgeny Morozov. Dahinter steckt die Vorstellung, dass sich komplexe, gesellschaftliche Probleme mit Hilfe smarter Technik, durch immer neue Geräte, Algorithmen und Apps lösen lassen. Ein Konzept, das in den regelmäßigen Verkündigungen der Tech-Konzerne des Silicon Valley zum Ausdruck kam, die ihre Produktpräsentationen zu Feiern der Erlösungskraft des Technischen stilisierten. Der Glaube an diese Erlösungskraft ist inzwischen erodiert.
Ausweg virtuelle Welt?
Als Konsequenz bietet beispielsweise Meta, der Mutterkonzern von Facebook, nun eine neue Lösung durch das Metaverse an. Zepeto beispielsweise, mit 300 Millionen Nutzer:innen in Asien eine der bedeutendsten Plattformen im Metaverse-Universum, bietet seit 2019 eine virtuelle Welt, in der man sich seine ganz eigene Umgebung designen kann, von den alltäglichen individuellen und globalen Problemen unberührt. Das Motto lautet: «Ein anderes Ich in einem anderen Universum.» Auf Zepeto feiern die Nutzer:innen virtuelle Partys, shoppen – für echtes Geld – in exklusiven Boutiquen oder treffen sich in einem verträumten Dorf, um dort auf einem Einhorn zu reiten. Kim Dae-Shik, der als Professor an der renommierten Kaist-Universität in Daejeon, Südkorea die Auswirkungen des technologischen Fortschritts auf das Gehirn untersucht, meint dazu: «Ich mag das Metaverse nicht, aber es ist unaufhaltbar. […] Für ein zehnjähriges koreanisches Kind ist das Internet zu einer Art Heimat geworden. Heimat ist ein Ort, wo wir uns wohlfühlen, er formt unser Gehirn.»
Die Trennung von Denken, Fühlen und Wollen
Die eingangs geschilderte Krise der Erkenntnissicherheit wird begleitet von einem Phänomen, das durch ein Auseinanderdriften der Seelenfähigkeiten Denken, Fühlen und Wollen verursacht wird. Wir wissen viel, sind aber nicht in der Lage, unser Handeln an diesem Wissen auszurichten. Ein Phänomen, das Eltern von Kindern in der Pubertät gut kennen und das sich im Stoßseufzer ausdrückt: «Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du nicht …?»
Von Rudolf Steiner wissen wir, dass in vielerlei Hinsicht die Entwicklung der Menschheit insgesamt dem Lebensgang des einzelnen Menschen ähnelt und dass das unbewusste Überschreiten der Schwelle zur geistigen Welt damit einhergeht, dass sich die Seelenkräfte voneinander trennen und sich verselbständigen. Damit ist die Gefahr verbunden, dass das Denken sich völlig ablöst vom Fühlen und Wollen, dass das Fühlen nicht mehr vom Denken gesteuert wird, und genauso der Wille außer Kontrolle gerät.
Urteilsbildung als Zeilenschaltung nach als Aufgabe
Was zunächst wie eine beklagenswerte Entwicklung erscheint, ist jedoch als Schritt in die Freiheit zu verstehen. Wir sind nicht mehr gebunden an Traditionen oder Autoritäten, sondern potenziell frei im Denken, Fühlen und Handeln. Allerdings geht diese Freiheit mit umso größerer Verantwortung einher. Die stufenweise Entwicklung der individuellen Urteilskraft, die zur Sicherheit im selbständigen Denken führt, muss ergänzt werden durch eine entsprechende Entwicklung im Fühlen und schließlich auch im Wollen. In der Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsstoff und auch mit künstlerischen und praktischen Herausforderungen lernen die Schüler:innen sich zu informieren und sich ein Urteil zu bilden. Dabei sollen sie eine individuelle Haltung entwickeln und die eigenen Ideale an der Wirklichkeit überprüfen. Wenn sie eine Einstellung zu zentralen Lebensfragen gefunden haben, können sie Entscheidungen treffen, die zu konkreten Handlungen führen.
Dies zeigt, dass es keinen Anlass zur Resignation gibt, wohl aber existenziell wichtige pädagogische Aufgaben, die angesichts der dargestellten Gegenkräfte keine leichten sind. Diesen Aufgaben muss sich auch die Schule stellen. Dabei sind die Grundprinzipien der Waldorfpädagogik, insbesondere eine Erziehung, die eine gesunde Entwicklung der Kinder fördern möchte, und das Bewältigen der Herausforderungen der modernen Medienwelt keine Gegensätze. Der im Mai diesen Jahres in neuer Auflage erschienene Medienkompass des Bund der Freien Waldorfschulen (den Link dazu finden Sie im Editorial) geht diesen Fragen nach.
1. Was muss man dem Kind ermöglichen, damit es inmitten einer von Technik und Medien geprägten Welt leiblich gesund aufwachsen und sich seelisch stark entwickeln kann?
2. Wie lernt das Kind, die Medienwelt zu verstehen, sinnvoll zu handhaben und kreativ weiterzuentwickeln? Dabei gilt es, das Bewährte unter erweiterten Aspekten zu betrachten und die vielfältigen erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten so zu transformieren, dass das Ziel der Medienmündigkeit erreicht werden kann. Dabei können alle Unterrichtsfächer einen Beitrag leisten und in jedem Lebensalter kann das entwicklungsgemäß Anstehende ein wesentlicher Schritt in diese Richtung sein. «Medienpädagogik beginnt am ersten Schultag». (1) Beispiele dafür findet man in diesem Heft und auch im Medienpädagogischen Handbuch für die Mittelstufe, einer der Publikationen des von Tessin-Lehrstuhls für Medienpädagogik. Der Lehrstuhl an der Freien Hochschule Stuttgart führt regelmäßige Aus- und Weiterbildungsangebote durch, die allen Waldorflehrer:innen offenstehen. (2)
Anmerkungen:
1 | Glaw, Franz (2022): «Medienpädagogik beginnt am ersten Schultag – medienpädagogische Transformationen», in: Edwin Hübner (Hrsg.): Medienpädagogik, Stuttgart (erscheint Ende 2022)
2 | https://www.freie-hochschule-stuttgart.de/de/medienpaedagogik
Kommentare
Lieber Herr Glaw,
ich stimme Ihnen voll zu.
Medienpädagogik beginnt in der ersten Klasse – besser noch im Kindergarten. Dabei sollte man noch einmal hervorheben, dass der Begriff „Medien“ in einem sehr weiten Rahmen gefasst werden sollte und nicht allein auf „digitales“ reduziert wird. Das müsste für die anthroposophische, waldorfpädagogische Leserschaft klar sein, aber auch dort habe ich manchmal meine Zweifel.
Es sind die Erzieherinnen und Erzieher, die Lehrerinnen und Lehrer, die Eltern - eigentlich alle, die um das Kind herum sind. Diese müssen erst einmal das Interesse an diesem wichtigen Thema der Medienpädagogik finden.
Ich finde es toll, dass der Tessin Lehrstuhl für Medienpädagogik eingerichtet wurde und es gibt mir Hoffnung, dass sich in den nächsten Jahren punktuell in den Schulen etwas tun wird, wenn junge Lehrerinnen und Lehrer medienpädagogisch geschult nicht nur mit den Kindern zusammen wachsen und groß werden, sondern auch professionell mit den Eltern in einen Austausch treten können.
Ich freue mich immer solche Artikel lesen zu können und könnte doch heulen, weil so wenig in den Schulen umgesetzt wird. Manche Kinderseelen werden in dieser Zeit sehr strapaziert – um es vorsichtig auszudrücken.