Gerda Brändle | Seit dem 26. März 2009 ist die UN-Konvention der Rechte für Menschen mit Behinderung für Deutschland verbindlich. Welche Konsequenzen hat das für die Zukunft der deutschen Bildungspolitik?
Karin Evers-Meyer | Die UN-Behindertenrechtskonvention fordert in Artikel 24 eine gemeinsame Beschulung behinderter und nicht behinderter Kinder. Mit einer Integrationsquote von gerade einmal 16 Prozent ist Deutschland von diesem Ziel noch weit entfernt. Mit der Ratifizierung der UN-Konvention hat sich Deutschland verpflichtet, die Forderungen der Konvention umzusetzen – ohne Finanzierungsvorbehalte. Menschenrechte können nicht unter dem Vorbehalt der Finanzierung stehen.
GB | Das englische Wort »Inclusion« wurde in der deutschen Übersetzung durch den gängigen Begriff »Integration« ersetzt. Kritiker bemängeln, dadurch werde die Konvention deutlich entschärft – vor allem auch im Bereich der Bildung. Sie selbst sprechen bevorzugt von Inklusion. Warum?
KEM | Einfach gesagt: Inklusion bedeutet »von Anfang an gemeinsam«. Das ist der wesentliche Unterschied zur Integration, die das Wiedereingliedern einer bereits ausgeschlossenen Gruppe von Personen bezeichnet. Die UN-Konvention zeichnet konsequent das Bild einer Gesellschaft, in der alle Menschen mit ihren individuellen Eigenschaften willkommen sind. Inklusion heißt für mich, dass in allen Lebensbereichen ein Umfeld geschaffen wird, das sich an den Bedürfnissen des Einzelnen orientiert und diesen gerecht wird. Und zwar nicht im Sinne eines Gnadenaktes, sondern als Selbstverständlichkeit. Inklusion muss sich in allen Bereichen widerspiegeln: auf dem Arbeitsmarkt, im Wohn- und Lebensumfeld und insbesondere auch in der Bildung.
GB | Das Konzept der Integration hat bisher nicht verhindert, dass Kinder Sonderschulen besuchen – auch gegen den Willen ihrer Eltern. Sollen Schulen inklusiv sein, muss die Bildungspolitik völlig neu ausgerichtet werden. Ist diese in einem dreigliedrigen Schulsystem überhaupt zu realisieren?
KEM | Selbstverständlich ist die Frage nach dem dreigliedrigen, eigentlich ja viergliedrigen Schulsystem eine sehr wichtige. Behindertenpolitisch geht es zunächst darum, die Schlechterstellung behinderter Schülerinnen und Schüler gegenüber ihren nicht behinderten Altersgenossen zu verhindern. Das heißt: ein echtes Wahlrecht für die Eltern einzuführen. Die gemeinsame Beschulung behinderter und nicht behinderter Kinder kann auch in einem gegliederten System funktionieren, wie Beispiele der Beschulung geistig behinderter Kinder an Gymnasien zeigen.
GB | Die inklusive Schule wird innerhalb der Waldorfpädagogik kontrovers diskutiert. Einerseits gibt es Schulen – beispielsweise die Emmendinger Waldorfschule – in der ein integratives Schulmodell bereits mit Erfolg praktiziert wird. Anderseits engagieren sich Waldorfpädagogen in speziellen heilpädagogischen Förderklassen, unter dem Gesichtspunkt, dass behinderte Kinder besonders gefördert und geschützt werden müssen. Insgesamt verfügt Deutschland über ein hoch spezialisiertes Förderschulsystem. Stehen diese Einrichtungen mit der Ratifizierung der UN-Konvention zur Disposition?
KEM | Nochmal: Die Eltern behinderter Kinder müssen die Wahl haben, ob sie ihr Kind in einer Förder- oder in einer Regelschule lernen lassen. Man traut schließlich auch den Eltern nicht behinderter Kinder zu, die richtige Schule für ihr Kind zu wählen. Warum dürfen also die Eltern behinderter Kinder nicht entscheiden, ob für ihr Kind ein Schon- und Förderraum oder die allgemeine Schule in der Nachbarschaft die bessere Alternative ist? Ein inklusives Schulsystem schließt die Existenz von Förderschulen nicht per se aus. Ich möchte aber nicht ausschließen, dass langfristig die inklusive Schule die Förderschule als Institution verdrängen wird. Das heißt aber keinesfalls, dass man förderpädagogische Kompetenzen nicht mehr benötigt – ganz im Gegenteil!
GB | Die inklusive Schule heißt »Schule neu denken«. Mit welchen pädagogischen Konzepten will man Kindern mit unterschiedlichem Förderbedarf den gemeinsamen Unterricht ermöglichen?
KEM | Natürlich funktioniert ein inklusives Schulsystem nicht mit den vorherrschenden Rahmenbedingungen – 30 Schüler, ein Lehrer. Die Lernbedingungen an den Regelschulen müssen so umgestaltet werden, dass jedes Kind nach seinen individuellen Fähigkeiten unterrichtet werden kann. Und zwar das behinderte Kind genauso wie das nicht behinderte. Das bedeutet: Die sonderpädagogische Förderung muss dann dem Kind folgen und nicht umgekehrt. Das Einlehrerprinzip wird künftig allenfalls in sehr kleinen Klassen realisierbar sein. Teamwork zwischen Regel- und Förderpädagogen, zwischen Assistenzkräften und Integrationshelfern wird die Regel werden.
GB | Im Zentrum der Inklusion steht der Wunsch, dass Menschen mit Behinderung gleichberechtigt und in vollem Umfang am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und ihr eigenes Leben selbst bestimmen können. Dieser Prozess setzt voraus, dass sich das gesellschaftliche Bewusstsein wandelt. Wie stellt sich die Politik dieser besonderen Herausforderung?
KEM | Am besten ist es, wenn wir Behinderung schon in der Schule zur Normalität machen. Die neue UN-Konvention gibt uns dafür starken Rückenwind. Durch die Verknüpfung des Themas Behinderung mit dem Thema demografischer Wandel gewinnen wir darüber hinaus eine zunehmend breite Öffentlichkeit. Etwa beim Thema Barrierefreiheit: Das betrifft alte Menschen und Menschen mit Behinderung gleichermaßen. Und da lassen sich viele weitere Bereiche finden, etwa die Frage nach ambulanter Betreuung in den eigenen vier Wänden. Umso breiter wir diese Debatte anlegen, um so mehr wird sich tun.
GB | Wie soll das inklusive Schulmodell finanziert werden?
KEM | Es wird immer wieder das Kostenargument angeführt, wenn es darum geht, inklusive Beschulung abzulehnen. Diverse Studien belegen dagegen, dass es billiger ist, ein inklusives System zu schaffen, statt ein duales System von Regel- und Förderschulen zu unterhalten. Es ist bereits jetzt sehr viel Geld im System – es muss nur an anderen Stellen eingesetzt werden. Darüber hinaus sinken in den kommenden Jahren die Schülerzahlen kontinuierlich. Wir sollten diesen Prozess nicht als Sparpotenzial betrachten und weniger Geld ausgeben, sondern ihn nutzen für kleinere Klassen und mehr Personal an Schulen.