Als vor fast 50 Jahren das Berufsbildende Gemeinschaftswerk (BG) an der Waldorfschule in Kassel gegründet wurde, war nicht absehbar, welchen Herausforderungen es sich heute stellen muss.
Das Konzept der Doppelqualifikation, wie es von Erhard Fucke und seinen Kollegen für die damaligen Bedingungen geplant worden war, hat sich in den zurückliegenden Jahrzehnten mithilfe der Metallwerkstatt, später auch der Elektro- und der Holzwerkstatt weiterentwickelt. Gegenwärtig durchlaufen die regulären Schüler, die sich für die Doppelqualifikation entschieden haben, ab der 10. Klasse eine Ausbildung, die schließlich zu einem Facharbeiter- oder Gesellenbrief führt. Die berufliche geht mit der schulischen Ausbildung einher, wobei die schulische, je nach Eignung, mit allen relevanten Abschlüssen beendet werden kann. Eine Besonderheit gegenüber vielen anderen Ausbildungsbetrieben ist, dass möglichst an realen Aufträgen aus der Wirtschaft oder von Privatkunden gelernt wird, wodurch gleichzeitig die Finanzierung des BG maßgeblich unterstützt wird.
Im laufenden Schuljahr lernen 75 Schüler in den drei Werkstätten für ihre beruflichen Abschlüsse. Davon kamen 14 als Flüchtlinge zu uns. Weitere 17 jugendliche Flüchtlinge wurden in die regulären Oberstufenklassen aufgenommen, sind also nicht in die berufliche Ausbildung einbezogen. Doch die Erfahrungen, die mit diesen Schülern gemacht werden, fließen in die berufliche Ausbildung ein.
Es ist naheliegend, das Potenzial der beruflichen Bildung für die Integration der Jugendlichen zu nutzen. Aus der Erfahrung wissen wir, dass dem Lernen durch praktisches Arbeiten ein hoher Bildungswert innewohnt, zumal wenn es sich um einen echten Kundenauftrag handelt. Die Entwicklung ihres Könnens und ihrer kognitiven Fähigkeiten erleben die Schüler so am realen Auftrag. Und dies wiederum vermittelt ihnen das Gefühl, gebraucht zu werden, weil das Erzeugnis der eigenen Arbeit, nach einer kurzen Phase des Übens, jemand anderem von Nutzen ist. Praktische Kooperation unter Mitschülern, Vertrauen in einen Meister, der den Lernprozess leitet und immer schwierigere Aufgaben stellt und der durch den Kundenkontakt tatsächlich erfahrbare Anschluss an die Gesellschaft sind die Grundlage dafür, dass Selbstvertrauen und -bewusstsein wachsen. Wir haben den Eindruck: Jemand, der durch die Doppelqualifikation gegangen ist, findet sicher seinen Lebensweg.
Fragen lernen
Um die Integration von Jugendlichen mit Fluchthintergrund mithilfe der Werkstätten zu ermöglichen, wurden in diesem Jahr zehn weitere junge Männer neu aufgenommen. Sie kamen aus Afghanistan und Eritrea zu uns und wurden in einer Klasse mit besonderem Stundenplan zusammengefasst. Der Klassenbetreuer erteilt Unterricht in deutscher Sprache.
Zusätzlich kümmert er sich um die Koordination aller Abläufe in der Schule und in der Werkstatt. Dafür ist er besonders qualifiziert, weil er neben seiner Muttersprache Persisch ausgezeichnet Deutsch spricht und auch Arabisch gut versteht. Ihm kommt im Umgang mit den Jugendlichen eine Schlüsselstellung zu, da die Schüler ohne Eltern hier sind. Er pflegt auch die Kontakte zu den Betreuern vom Jugendamt und steht in enger Verbindung mit seinem Kollegium, den unterrichtenden Lehrern, den Meistern und Fachkundelehrern.
Ein Teil der Werkstatt-Schüler ist also jetzt im ersten Lehrjahr, das mit der 10. Klasse beginnt, der kleinere Teil im zweiten und dritten Lehrjahr. Im Frühjahr legten einige ihre Zwischenprüfung vor der IHK mit guten Ergebnissen in der Praxis ab. Die theoretischen Prüfungen reichten für das Bestehen, waren aber nicht befriedigend.
Die größte Hürde, die zu bewältigen ist, stellt die Aneignung der deutschen Sprache dar, besonders im fachlichen Bereich. Auch wenn manche Schüler bereits durch das zweijährige InteA-Programm (dient in Hessen zur Vorbereitung auf eine berufliche Ausbildung) gefördert wurden, werden die Lehrlinge mit den Begriffen, die oft sehr abstrakt sind, nur schwer vertraut. Ein Schreiner muss wissen, was eine »Gratleiste« ist oder was »eine Kante anfahren« bedeutet, auch wenn diese Begriffe nur im Fachgespräch vorkommen, also in der Praxis nicht so nebenbei eingeübt werden können, wie manches andere.
Um diesen Schwierigkeiten zu begegnen, gibt es für die neuen Schüler zusätzliche Unterrichtsstunden. Hier können sie Fragen stellen, nicht Verstandenes wird besprochen und die Fachdokumentation wird gemeinsam erarbeitet. Aber ein Schüler gibt sich nicht gern eine Blöße, indem er fragt. Es ist also günstig, wenn sein Lehrer bereits ahnt, wo die Klippen sind.
Ein markanter Gesichtsausdruck, das Senken des Blicks müssen richtig gedeutet werden und der Lehrer sollte die Initiative ergreifen, ohne dass der Schüler die Schwäche als Niederlage empfindet. Es ist bei Migranten aus den genannten Kulturkreisen nicht üblich zu fragen, weil damit das gültige Wort des Älteren infrage gestellt würde. Diese kulturelle Eigenheit zu überwinden erfordert Zeit. Aber mittlerweile trauen sich die Schüler vermehrt zu fragen – ein gutes Zeichen. Auch der soziale Bezug zu den anderen Mitschülern ist wichtig: Gerade beim gemeinsamen Arbeiten und Lernen, bei dem die sprachliche Barriere in den Hintergrund tritt, findet eine selbstverständliche Integration auf Augenhöhe statt. Von der hohen Motivation der ausländischen Jugendlichen könnte sich manch heimischer Schüler eine Scheibe abschneiden. Denn das Pensum ist gewaltig. Die Flüchtlinge sind interessiert und wollen alles lernen.
Die Meister berichten, dass die Schüler hingebungsvoll beobachten, wenn etwas gezeigt wird. Nicht die Erklärung steht im Mittelpunkt, sondern die Handlung – eine Bestätigung unseres Lernkonzepts.
Die Schüler lernen gut. Sie entwickeln sich. Das geht, weil auch die Lehrer und Meister ihr pädagogisches Können erweitern und die Anwesenheit der »Fremden« als Chance begreifen.
Zum Autor: Rüdiger Skorubski ist Oberstufenlehrer an der Freien Waldorfschule Kassel und Verbindungslehrer zum Berufsbildenden Gemeinschaftswerk e.V.
Literatur: Erhard Fucke: Der Bildungswert praktischer Arbeit, Stuttgart 1996