Auf der Jagd nach Ziegen. Landwirtschaftspraktikum auf einer Alp im Tessin

Linus Entringer

Ich war aufgeregt. Die fünf Stunden Autofahrt vom Bodensee nach Sonogno, ans Ende des Verzasca-Tals, waren anstrengend. Nun stand ich an der Vorderseite von La Penagia, dem Hof, an welchem mein Landwirtschaftspraktikum seinen Anfang nehmen sollte. Es war ein kleiner Bauernhof, das letzte bewohnte Gebäude in diesem Tal. Die Wände aus glattem Beton, teilweise mit Holz verkleidet. Neben dem Hof stand ein überwucherter Wohnwagen und im Hintergrund war das Rauschen der Verzasca zu hören.

Aus dem Kuhstall kam der Bauer Damiano Matasci, ein mittelgroßer Tessiner, 52 Jahre alt, und man sah ihm die harte Arbeit als Landwirt an. Seine Frau Nadia kam auch dazu. Die beiden begrüßten mich und meine Eltern und baten uns zum Abendessen ins Haus. Ich lernte noch den zweiten Praktikanten, Amos, kennen.

Ein Wecker klingelt. Es ist 4.52 Uhr morgens.

Ich versuche schlaftrunken herauszufinden, wo ich bin und wessen Wecker da läutet. Ich liege auf einem harten Bett, in einem weiß gekachelten Raum, der mit so viel Gerümpel vollgestellt ist, dass nur gerade zwei Betten für Amos und mich Platz darin haben. Unser Zimmer befindet sich direkt neben dem Kuhstall und es wimmelt nur so von Fliegen, die einem nachts den Schlaf rauben. Unter diesen Umständen fühle ich mich nicht besonders wohl und überlege, wie ich hierhergekommen bin. Es war vor ungefähr sieben Monaten, als ich in der Kartei unserer Schule nach einem Platz für mein Landwirtschaftspraktikum suchte. Dabei fiel mir der Hof La Penagia, in der italienischen Schweiz in die Hände. Ich wusste von Fotos, dass diese Gegend sehr schön ist, außerdem hatte ich meinen dritten Geburtstag dort gefeiert. Amos Wecker klingelt schon wieder. Ich springe aus dem Bett, ziehe mich an und öffne die Zimmertüre. Im Stall drückt mir Damiano gleich einen 20-Liter-Eimer mit frischer Kuhmilch in die Hand. Nachdem alle neun Kühe gemolken und die Melkmaschine geputzt ist, gehen wir in die Küche und nehmen unser Frühstück ein. Es wird in den nächsten Wochen zu meiner Lieblingsmahlzeit, bestehend aus Milch mit Kakaopulver, Brot, Butter und Käse.

Danach fahren wir in einem alten, klapprigen Subaru fünfzehn Minuten talaufwärts durch wildes Gelände, um die Ziegen zu melken. Die Ziegenherde besteht aus 54 Tieren, von denen aber nur 35 gemolken werden. Ich schnappe mir eine Ziege, setze mich hinter sie und versuche vergeblich, sie zu melken. Erst nach einer ausführlichen Erklärung von Amos gelingt es mir, einen schwachen Strahl aus dem Euter der armen Ziege zu pressen. Nach einer Ewigkeit und mit schmerzenden Armen ist es mir gelungen, zwei Liter Milch von dieser Ziege zu melken. Währenddessen haben Amos und Damiano alle anderen Ziegen gemolken. Wir bringen die gesamte Milch in die örtliche Käserei und machen bis zum Mittagessen Heu. Nach einer kurzen Mittagspause geht es wieder zum Heuen. Am Abend werden alle Tiere gemolken.

So vergingen die nächsten zwei Wochen. Jede freie Minute schlief ich und abends fiel ich todmüde ins Bett. Nach zwei Wochen Hofleben begannen wir alles für die Alp vorzubereiten, die Damiano seit drei Jahren gepachtet hat, und auf der er mit seinen Tieren den Sommer verbringt. Die Alp ist zwei Stunden Autofahrt und dann noch anderthalb Stunden Fußmarsch vom Hof entfernt. Mit drei Viehtransportern und dem Auto voller Vorräte, traten wir die Reise ins Vergeletto-Tal an.

Die Tiere stürmten los, glücklich, der Enge des Viehwagens entfliehen zu können und in dem Wissen, welch herrliches Futter sie den Sommer über auf der Alp erwartete. Schon nach kurzem war keine Ziege mehr zu sehen, auch die Kühe trotteten hinterher. Den jungen Kälbern dagegen war anzumerken, dass ihnen dieses Tal unbekannt war und sie waren nur schwer dazu zu bewegen, dem schmalen Pfad bergan zu folgen. Durch vereintes Schieben und Drücken brachten wir die Kälber Meter um Meter nach oben. Damianos Sohn, Attilio, war auch dabei und unterstützte uns. Nach über drei Stunden erreichten wir völlig entkräftet die Alpe di Porcaresc. In meinem Tagebuch vermerkte ich diesen Aufstieg als »die anstrengendsten 700 Höhenmeter meines Lebens«.

Nachdem unsere Entkräftung etwas nachgelassen hatte, begannen wir die Alp herzurichten. Diese liegt auf 1.800 Metern in einem Talkessel. Sie besteht aus sieben Steinhütten, davon sind vier Ställe, zwei Holzlager und Vorratshütten, dazu ein großes Steinhaus mit Käserei, Küche, Schlafraum und Käsekeller. Die Weideflächen reichen stufenweise bis auf eine Höhe von 2.300 Meter hinauf. Nach ein paar Tagen kam ein Hubschrauber, um uns weitere Vorräte und Stroh für die Ställe zu bringen. Auf der Alp begann der Tag um vier Uhr morgens, noch vor Sonnenaufgang. Ich hatte mich mittlerweile an das frühe Aufstehen und den wenigen Schlaf gewöhnt, doch ich konnte damals noch nicht ahnen, wie mich dies für mein weiteres Leben prägen würde. Wir sattelten jeden Morgen zwei Eseln die Milchkannen auf und marschierten zu den Kühen auf die Weide. Anfang Juni war es auf 1.800 Metern Höhe noch sehr kalt, vereinzelt lag sogar noch Schnee. Einmal rutschte einer der Esel ab, stürzte mit den schweren Milchkannen beladen ins Tal – zum Glück ohne sich tödlich zu verletzen.

Ich nehme mir meinen Eimer und suche in der Dunkelheit nach einer Kuh, die ich melken kann.

Es ist kalt, ich knie mich in das von der Kuh warm gelegene Gras und kuschle mich dicht an sie. Ich beginne, ihren Euter zu massieren. Ich merke, wie er sich langsam füllt und beginne mit schnellen abwechselnden Handbewegungen einen dicken Strahl Milch in den Eimer zu melken. Meinen Kopf an den Bauch der Kuh gelehnt, döse ich kurz weg, während ich melke.

Nach zwei Wochen in der Abgeschiedenheit auf der Alp war ich eins mit diesem Leben, ich konnte mir nichts anderes mehr vorstellen. In Porcaresc sind die Tiere zu meinen besten Freunden geworden, auch wenn ich die Ziegen jeden Morgen von den Berggipfeln herunterholen musste. Nach dem Melken der Kühe und Ziegen, begannen wir Käse zu machen. Jeden Mittag ging ich ein Stück den Berg hinauf, um mich an einem eiskalten Bergsee zu waschen. Abends mussten wieder alle Tiere gemolken werden. Wir waren meist zu dritt auf der Alp. Wir mussten nicht nur Melken und Käse machen, sondern auch Holz hacken, die Ställe säubern, Wäsche waschen, unser Essen kochen und hier und da kleine Sachen reparieren. Oft waren wir bis 21 oder 22 Uhr beschäftigt.

Jeder Tag auf der Alp brachte etwas Neues. An manchen Tagen waren wir viele Stunden damit beschäftigt, alle Ziegen einzufangen. Manchmal überraschte uns dabei ein Unwetter und wir mussten einige Stunden am Berg bleiben. Dafür wurden all die Mühen oft mit wunderschönen Ausblicken von hohen Berggipfeln belohnt. Wir waren weit entfernt von allem, nur unser Radio, das immer dieselben Lieder spielte, berichtete uns aus der Welt. Am letzten Tag meines siebenwöchigen Praktikums durfte ich etwas Besonderes machen.

Ich bin etwas aufgeregt, Damiano meinte gerade, dass ich den Käse heute ganz alleine machen darf.

Vor mir über dem Feuer hängt ein Kupferkessel mit 240 Litern Milch. Vom Zuschauen kenne ich die Prozedur auswendig. Ich rühre das Lab in die erhitzte Milch und lasse es einwirken. Nach dem Frühstück zerteile ich die eingedickten Fettteilchen und halte sie über dem Feuer in Bewegung. Bei der richtigen Temperatur schöpfe ich die Molke ab. – Mit einem Tuch greife ich in den heißen Sud und fische die Käseteilchen heraus … Käse Nr. 32 ist mir gut gelungen.

Meine Zeit auf der Alpe di Porcaresc hat mich sehr glücklich gemacht, aber ich habe lange gebraucht, mich wieder im normalen Leben zurechtzufinden.

Zum Autor: Linus Entringer besucht die 11. Klasse der Freien Waldorfschule in Überlingen.