Mein Freiwilligendienst in Massachusetts

Justina Ehlert

Landschaftlich unterscheidet sich Massachusetts wenig von europäischen Ländern. Während der Autofahrt sieht man die blau-weiß-roten Flaggen im Wind wehen, Menschen sitzen auf den Verandas ihrer weißen Holzhäuser. Vorbei geht es an kleinen Cafés, Second-Hand-Läden und Boutiquen, die ihre Ware auf Kleiderstangen am Straßenrand anbieten. Eine Tankstelle, ein Doughnut-Shop, noch ein Stückchen geradeaus und einmal rechts abbiegen und schon sieht man die Zäune, die Auffahrt und die drei Häuser der kleinen Farm. auf der ich nun ein Jahr lang leben werde.

Auf der High Spirit Community Farm in Great Barrington, Massachusetts, leben die Farmer, die Erwachsenen mit geistiger Behinderung und Freiwillige.

Mein neues Zuhause ist das Aurora House, eine riesige alte renovierte Scheune, die nun als Wohnhaus für bis zu zehn Bewohner dient. Hier wohnen die »Householder« Aly und Troy sowie Ingrid und Lucy, zwei junge Frauen mit Autismus und Epilepsie und Olivia, eine weitere Freiwillige aus den USA. Es gibt drei weitere Häuser auf der Farm für Menschen mit Assistenzbedarf.

Die ersten Tage sind nicht einfach, mein Schulenglisch reicht kaum für ein vernünftiges Gespräch. Es gibt einen festen Wochenplan mit den verschiedensten Aktivitäten. Dieser variiert in der Woche wenig, das Wochenende kann meistens von uns Freiwilligen organisiert werden.

Mein Tag startet jeden Morgen um 7.30 Uhr und endet mit dem ins Bett bringen von Lucy und Ingrid um 20.00 Uhr. Eineinhalb Tage pro Woche sind frei.

Aktivitäten

Da unsere beiden Bewohnerinnen verschiedene Interessengebiete haben und auch unterschiedlich selbstständig sind, stehen auf dem wöchentlichen Plan auch unterschiedliche Aktivitäten.

Ingrid macht gerne Spaziergänge, nimmt an einem Tanz-und Jonglierworkshop und am Eurythmieunterricht teil. Außerdem arbeitet sie freiwillig auf einer benachbarten Farm, sammelt Eier und sortiert diese in Kartons ein, sodass sie im Farmladen verkauft werden können. Lucy nimmt an einem Kunstworkshop teil. Außerdem machen beide therapeutisches Reiten.

Tagsüber sind meine Kollegin Olivia und ich für Ingrid und Lucy zuständig. Wenn wir die beiden nicht gerade zu ihren Aktivitäten begleiten, gehen wir vier zusammen ins Schwimmbad oder zum »Community Dinner«.

Das Community Dinner findet mehrmals in der Woche statt. Dort treffen sich einige Bewohner der umliegenden Behinderteneinrichtungen und ihre Betreuer mit anderen Einheimischen, um zu essen und sich zu unterhalten.

Man hat dort nicht nur die Möglichkeit, mal mit den anderen Freiwilligen und den Bürgern Great Barringtons in Kontakt zu treten; die gemeinsamen Abendessen dienen auch dazu, das Sozialverhalten unserer Bewohner zu schulen.

Die Wochenenden sind meist entspannter. Dann machen Ingrid, Lucy, Olivia und ich manchmal Ausflüge zu Stadtfesten oder Märkten, haben Dinner mit anderen befreundeten Bewohnern der Nachbareinrichtungen, veranstalten Filmabende, oder einfach einen Einkaufsausflug zu Target, dem monströsen Supermarkt, in dem man sich gerne mal einen ganzen Nachmittag aufhalten kann.

Farmarbeit

Die Aktivitäten am Vormittag beschränken sich auf Farmarbeit im Frühling, Sommer und Herbst, auf gemeinsames Kochen, Basteln und Projekten zum Thema Kräuterkunde. Zu Weihnachten werden beispielsweise Weihnachtsbaumanhänger, Sterne oder Girlanden gebastelt. Wir stellen auch oft Holunderbeersirup, Feuer-Cider, verschiedene Cremes oder Sauerkraut selber her.

Dazu verwenden wir häufig Zutaten aus eigener Ernte, denn obwohl die Farm nur sehr klein ist und nur einen Gemüse- und Kräutergarten mit anliegendem Gewächshaus umfasst, ist unsere Ernte im Herbst äußerst ausladend und selbst im Winter wachsen im Gewächshaus noch einige wetterfeste Salatsorten.

Unsere Mahlzeiten bestehen deshalb oft zu mindestens 50 Prozent aus selbst angebautem Gemüse. Und auch das Fleisch kommt manchmal aus eigener Verarbeitung, da im Herbst alle 15 Hühner der Farm geschlachtet werden.

Während der Gartenbauprojekte am Morgen ist es die Aufgabe der Freiwilligen, mit Ingrid zu arbeiten. Wir füttern jeden Morgen die Ziegen zusammen. Danach muss Ingrid die Pflanzen im Gewächshaus wässern und hilft dann bei Aufgaben wie pflanzen, ernten, harken oder schaufeln.

Lucy interessiert sich eher weniger für Gartenarbeit. Das ist ihr einfach ein bisschen zu anstrengend. Sie guckt sich lieber Bücher an, malt, hört Musik oder sieht beim Kochen zu.

Andere Aufgaben

Wenn ich gerade mal nicht mit Ingrid und Lucy beschäftigt bin, fallen viele Aufgaben im Haushalt an wie Wäsche waschen, putzen, einkaufen oder kochen.

Einmal in der Woche muss ich für die gesamte Farm Mittagessen kochen.

Die Vorstellung, für fünfzehn Personen kochen zu müssen, schien mir am Anfang des Jahres utopisch, da ich keinerlei Erfahrungen im Kochen hatte und man zusätzlich noch zahlreiche Unverträglichkeiten der Bewohner berücksichtigen musste.

Ich habe also klein angefangen und ab und zu an Wochenenden Mittag- oder Abendessen allein für meine Mitbewohner im Aurora House gekocht.

Inzwischen probiere ich mich gerne an neuen Rezepten aus und habe keinerlei Schwierigkeiten mehr für viele Menschen zu kochen.

Meine Freizeit

Meine freie Zeit verbringe ich oft mit anderen Freiwilligen. Wir unternehmen zusammen Ausflüge in kleinere Nachbarstädte, oder setzen uns in den Zug nach New York City, um dort unseren freien Tag zu verbringen.

Abends sitzen wir oft zusammen, spielen Pool gespielt, oder gehen in eine Bar.

Wenn man in Great Barrington wohnt, hängen die Freizeitaktivitäten sehr von Jahreszeit und Wetter ab.

Der Herbst ist wunderschön bunt und ideal für Wanderungen. Die Gegend ist bei Wanderern deshalb auch sehr beliebt, denn auch der Appalachian-Trail führt direkt an Great Barrington vorbei.

Im Winter sind die Aktivitäten sehr beschränkt. Noch nie habe ich einen Winter wie diesen erlebt. Eisige Temperaturen und viel, viel Schnee halten einen im Haus und wir machen Filmabende, hören Weihnachtslieder und backen Kekse.

Um einen Spaziergang im Wald hinterm Haus zu machen, muss man seine Langlaufskier mitnehmen und auch im Skigebiet etwas weiter außerhalb von Great Barrington düse ich einige Male die Piste herunter.

Der Frühling ist nur kurz und blumig, der Sommer dafür heiß und sonnig.

Da treffen wir uns oft am Fluss, schwimmen und tanken am Ufer Sonne.

Reisen in den USA

Meine erste freie Woche liegt an Thanksgiving. Zusammen mit einigen anderen Freiwilligen statte ich Toronto einen Besuch ab. Wir mieten also ein Auto und fahren in Richtung Norden. Auf der Autofahrt fällt plötzlich der erste Schnee, obwohl es erst Mitte November ist.

In Toronto angekommen verhalten wir uns wie waschechte Touristen: wir sehen uns Museen an, genießen den Ausblick über die Stadt vom CN-Tower aus und machen einen Abstecher zu den Niagara Falls.

Über Weihnachten fahre ich mit einer Freundin nach New York City und erlebe den Times Square, die Brooklyn Bridge und den Central Park in festlicher Weihnachtsbeleuchtung.

Anfang Februar geht es für alle Bewohner des Aurora Hauses für eine Woche in die Ferien nach Marco Island, Florida.

Dort wohnen wir in einem großen Haus mit Pool und Palmen, machen Strandausflüge, schwimmen im Meer und im Pool und machen eine Kanutour durch den Nationalpark »The Everglades«. Dort sehe ich zum ersten Mal in meinem Leben frei lebende Alligatoren.

Die nächsten Ferien finden im April statt. Da dieses mal keiner von meinen Mitfreiwilligen frei hat, muss ich meinen allerersten Urlaub allein planen. Das ist ganz schön aufregend und letztendlich entscheide ich mich für eine Fahrt über Washington DC runter nach New Orleans, Louisiana. Da ich altersbedingt noch nicht dazu befugt bin, ein bezahlbares Auto zu mieten, setze ich mich also in den Bus nach Washington DC.

Washington ist im Frühling wunderschön. Die Kirschbäume blühen und ich mache eine große Museumstour, sehe mir das weiße Haus aus der Entfernung an und leihe ein Fahrrad, um durch das Studentenviertel Georgetown mit seinen schönen Lädchen, Cafes und Backsteinhäuschen zu fahren.

Weiter geht es ins sonnige Lousiana.

32 Stunden dauert es und ich muss sagen, so lange bin ich in meinem Leben noch nicht Bus gefahren.

Doch die Busfahrt hat sich gelohnt! In New Orleans bekommt man die Vielfältigkeit der Vereinigten Staaten erst richtig zu spüren.

Zwischen moosbewachsenen Bäumen und den typischen mississipianischen Häusern wird Strassenmusik gemacht, es gibt Märkte und wunderschöne Parks.

Ich erkunde die Stadt, mache eine Flussrundfahrt auf dem Mississippi mit einem der klassischen Wasserraddampfer und esse ein Alligatorsandwich.

Alles wirkt so viel lebhafter und geschäftiger als im verschlafenen Massachusetts.

Wenn es dunkel wird blüht die Stadt erst so richtig auf. An jeder Ecke gibt es Bars und Clubs, aus denen Livemusik dröhnt und die Hauptstraße ist voll von Menschen, die feiern wollten.

Im Sommer erhalte ich noch einmal zwei Wochen frei. Dazu kommen meine Großeltern zu Besuch. Zusammen machen wir einen Road Trip durch New England. Wir starten in Boston und fahren von dort zum Cape Cod. Dann geht es hoch in den Norden nach New Hampshire, Maine über Vermont und wieder nach Massachusetts. Auch wenn New England verglichen mit San Francisco und Los Angeles im internationalen Raum keine vergleichbar bekannte Touristenattraktion ist, so bin ich doch sehr von der Schönheit und Vielfalt der New England Staaten fasziniert.

Diese zwei Wochen sind noch einmal ein Highlight und machen mir den Abschied nicht unbedingt leichter.

Abschied

Leider musste uns Ingrid im letzten Monat verlassen, weil sie ihre Eltern sehr vermisste. Bis zu ihrem dreißigsten Lebensjahr hatte sie nie von ihren Eltern getrennt gelebt, weshalb sie sich nie vollkommen mit dem Leben im Aurora House anfreunden konnte. Neben Perioden, die für uns alle immense mentale Anstrengung bedeuteten, hatten wir im Großen und Ganzen eine wirklich tolle Zeit mit Ingrid. Sie zog wieder zurück nach Hause und ist jetzt anscheinend wieder in einer besseren Verfassung.

Der Abschied fällt mir sehr, sehr schwer. Ich habe so viele Menschen sehr lieb gewonnen, dass ich eigentlich noch nicht bereit bin, zu gehen. Die Trennung von Lucy und den anderen Hausbewohnern ist wegen der Ungewissheit, wann wir uns das nächste Mal sehen werden, besonders traurig.

Mir wurde so viel Freundlichkeit und Offenheit entgegengebracht und ich habe viel aus diesem Jahr mitnehmen können.

Inzwischen denke ich mit einer herzerwärmenden Liebe und Dankbarkeit an diese Zeit zurück und freue mich, dass ich das Glück hatte, an diesem Ort gelandet zu sein.