Tun, was alle für verrückt halten

Fiona Norbron

Ich sollte in Deutsch eine Rollenbiographie über Faust schreiben und merkte, dass ich verstanden habe, worum es in Goethes Meisterwerk geht. Ich habe es nicht erzählt bekommen, es wurde mir nicht eingetrichtert. Ich habe es herausgefunden und ein ganz eigenes Bild von dem Stück und den Figuren entwickelt. Diese Art zu lernen hat mir meine Schule ermöglicht und beigebracht. Die Waldorfschule schafft es, aus einer Klasse voller fantasievoller, neugieriger Kinder, die ihre erste Gerade und Krumme zeichnen, eine Klasse voller junger Erwachsener zu machen, die nicht weniger neugierig und fantasievoll, aber auch selbstständig, gebildet und kritisch in die Welt ziehen. Die Schule schenkte mir eine zweite Familie, sie ist mir ein Zuhause geworden. Ich werde, und das ohne außerplanmäßige Aktionen wie unzählige Theaterproben, etwa 18.500 Stunden in der Schule verbracht haben, wenn ich meinen Abschluss in der Tasche habe. Meine Lehrer schenkten mir Fähigkeiten und Wissen, Selbstvertrauen, Werte, Vorbilder und Bildung, Kunst, Wurzeln und Flügel.

Sie schenkten mir einen Vorrat an Kraft, Wärme und Liebe, von dem ich mein Leben lang zehren kann, ohne mir die Wirklichkeit vorzuenthalten. Ich weiß um die Dinge, die passieren. Die Schule hat mich vorbereitet. Und dafür bin ich ihr dankbar. Ein solches Geschenk ist unbezahlbar und unendlich wertvoll. Aber es bringt auch eine Verantwortung mit sich. Wir, die wir so gute Schulen besuchen, uns so frei entwickeln dürfen und so hohe Bildung genießen, müssen diese Potenziale so gut nutzen wie möglich, vor allem, da es Kinder gibt, die dieses Privileg nicht haben. Ihnen sind wir es schuldig, wirklich das Beste daraus zu machen.

Was würde Rudolf Steiner sagen, wenn er die Waldorfschulen der Welt heute sähe? Ich denke, er wäre stolz und würde sich freuen – und er würde verzweifeln, weil er so viel ungenutztes Potenzial sehen würde, dessen Freisetzung die Welt so dringend bräuchte.

Überall auf der Welt gibt es mittlerweile Waldorfschulen: Eine starke Gemeinschaft, durch Anthroposophie verbunden – was könnten wir alle zusammen nicht alles erreichen? Es ist an der Zeit, dass wir mehr tun!

Denn die beste Bildung bringt nicht viel, wenn unsere ganze Welt wegen uns Menschen zugrunde geht. Ich weiß, das klingt sehr dramatisch. Aber das ist es ja auch! Der Planet wird die Klimakrise bestimmt überstehen, aber die meisten Pflanzen, Tiere und Menschen nicht. Wir Menschen sind bequem und egoistisch geworden, so träge, dass wir anscheinend beschlossen haben, solange es geht nichts zu ändern, obwohl unsere Vernunft SCHREIT, dass es längst höchste Zeit ist. Wir wollen doch nicht, nachdem wir so weit gekommen sind, an Bequemlichkeit scheitern?

Die Waldorfgemeinschaft muss aus sich herauskommen

Hundert Jahre Waldorfschule! Wir fragen uns, was wir ändern müssen – ob unser Konzept noch zeitgemäß ist. Ich sage: JA, DAS IST ES! Das Konzept ist aktuell, nur wir verhalten uns nicht zeitgemäß! Zeitgemäß wäre, die Schwierigkeiten und Aufgaben, die unsere Gegenwart mit sich bringt, möglichst gut zu lösen. Mit Steiners Anregungen bereiten wir uns eigentlich seit 100 Jahren darauf vor. Er gab uns wichtige Erkenntnisse, Werthaltungen und Befähigungsmöglichkeiten mit auf den Weg, um uns als Menschheit weiter entwickeln zu können. Wir müssen sie nur anwenden. Die Aufgabe der Menschheit ist es nun, Verantwortung zu übernehmen. Für ihre eigenen Fehler, für ihr eigenes Handeln.

Steiner schenkte uns außer dem genialen Bildungssystem auch Lehren und Konzepte, die weiter helfen: zum Beispiel die Soziale Dreigliederung, bei der Wirtschaft, Politik und Religion ganz klar voneinander getrennt sind, oder die biodynamische Landwirtschaft und vieles mehr. Anthroposophie könnte ein Schlüssel für die Zukunft sein, und wir haben diesen Schlüssel. Wir sollten ihn der Welt nicht vorenthalten!

Denken Sie, wenn Steiner unter uns wäre, würde er in dieser schönen, kleinen, heilen Waldorfwelt schwelgen? Ich glaube nicht. Jetzt müssen wir unser ganzes Wissen, die Fähigkeiten und Möglichkeiten für höhere Ziele einsetzen, und dafür, dass unsere ganze Entwicklung hier auf der Schule nicht umsonst war.

Herzenstaten

Es geht nun darum, unsere Prüfung als Menschheit zu bestehen, damit wir danach als freie, vernünftige, erwachsene Menschen in die Zukunft schreiten können, die es sonst nicht geben wird. Frau Mahlzahn muss zum Goldenen Drachen der Weisheit werden, Antigone muss sich opfern, Michael den Drachen bezwingen. Wir brauchen Helden. Wir müssen das Richtige tun und dazu stehen, uns positionieren. Wir brauchen Mut, oder lieber möchte ich sagen »Courage«, denn dieses Wort bedeutet mehr als das Gegenteil von Angst. Es kommt von »coeur« – Herz – und heißt soviel wie »Tat des Herzens«. Es geht um eine Entscheidung, die man trifft, und zwar nicht mit dem Kopf. Es geht um ein Versprechen ans Schicksal.

Wir müssen aus unserer Angst und Bequemlichkeit, aus unserer gemütlichen Höhle heraus, sonst werden wir darin verschüttet und für immer darin stecken bleiben.

Als die »Hit the Beat«-Gruppe aus der Waldorfschule Windhoek in Namibia vor etwa einem Monat an unserer Schule war, haben wir Schüler festgestellt, dass wir uns über die wichtigsten Themen und Aufgaben der Zukunft einig sind, obwohl wir aus so verschiedenen Kulturen stammen. Wir haben einander verstanden. Können Sie sich vorstellen, wie viel Hoffnung und Kraft uns das gegeben hat?

Wir leben in einer Zeit, in der alles auf der Kippe steht und nichts gewiss ist. Solche Zeiten sind gefährlich, denn sie machen die Menschen unsicher und empfänglicher für das Böse. Aber sie bieten auch Chancen, alles richtig zu machen, gut und menschlich zu sein.

Es geht also darum, das Richtige zu tun. Dann fügen sich die Dinge. Woher weiß man aber, was das Richtige ist? Helmy Abouleish, Leiter der SEKEM-Farm in Ägypten, hat einmal den weisen Satz gesagt, man erkennt es daran, dass es unmöglich erscheint. Dass einen alle für verrückt halten und einem von dem Vorhaben abraten.

Wer sagt, wir können es nicht mehr schaffen, die Klimakatastrophe abzuwenden … ist wahrscheinlich Realist – weil er die Menschen anschaut, wie sie gerade sind. Aber es gibt auch Realisten, die sagen, wir können es noch schaffen, das Schlimmste zu verhindern! Realisten, die die Menschen als das sehen, was sie sein können! Solche, die sagen: »Man ist nie einer Aufgabe gewachsen. Man wächst mit der Aufgabe.«

Margarita Woloschin, eine Zeitgenossin Steiners, schrieb über ihn: »Wenn Rudolf Steiner einen begrüßte, war es einem so, als ob dieser Augenblick der Zukunft vorweggenommen sei. Man empfand: Der, den er da begrüßt, ist eigentlich noch nicht da. Man antwortete innerlich mit einem Gelöbnis, der einmal zu werden, den er in einem sah.« Steiner würde in uns sicher Menschen sehen, die es schaffen können, die Welt zu retten. Also lasst uns diese Menschen sein.

Die Menschheit als Ganzes ist in derselben Lage wie Faust, mit dem ich diese Rede begonnen habe. Er ist an einem Punkt angelangt, an dem er Vieles schon nicht mehr rückgängig machen kann. Gretchen ist schon schwanger.

Aber er hätte sie noch retten können. Er hätte sich dafür entscheiden können, den schwierigen Weg zu gehen und zu ihr zu stehen, Verantwortung für seine Taten zu übernehmen und Gretchen nicht für seine Schuld büßen zu lassen.

Wenn Faust nun den heutigen Menschen verkörpert, ist Gretchen die Natur, die Erde, das Leben. Ich verstehe Faust und seinen Weg. Die Versuchung ist stark, einfach wegzusehen, so lange es geht, und weiterzumachen, den leichten, spaßigen Weg zu wählen. Aber ich werde mich, gemeinsam mit vielen anderen, die sich schon auf den Weg gemacht haben, für Gretchen entscheiden. Und ich hoffe, dass Sie alle, die Waldorfgemeinschaft, und letztlich die ganze Menschheit, es uns gleichtun. Sonst wird Gretchen an unserer Lieblosigkeit verzweifeln und zugrunde gehen.