Wirft man einen Blick auf den gesamten »Ersten Lehrerkurs« vom August/September 1919, wird seine Dreigliederung deutlich: Der Morgenkurs ist eine Art spirituelle Anthropologie, später am Vormittag charakterisiert Steiner die Methodik und lässt die angehenden Lehrer mit gemüthaften Beispielen verstehen, warum und wann sie welche Inhalte unterrichten sollen. Der Nachmittag gilt der Tat: Wie soll der Unterricht gestaltet sein, und wie übt man etwas ein? In diesem Tagesprogramm finden wir auch eine Art Modell für das, was unsere Stundenpläne entscheidend beeinflusst hat: Gedankliches am Morgen, rhythmisch Atmendes nach einer Pause und vorzugsweise praktische und künstlerische Fächer am Nachmittag.
Der »Kopfmensch«, so Steiner, schläft noch nach der Geburt, und soll vom Gliedmaßensystem im Lauf der Erziehung geweckt werden. Wir erreichen also nicht unbedingt etwas, wenn wir Appelle an das Verstehen der Schüler richten – da müssen wir einfallsreicher vorgehen. Der Anweisung, zuerst die Gliedmaßen ins Spiel zu bringen, ist der sogenannte Rhythmische Teil geschuldet, der allerdings oft viel zu lang ausfällt: Nach ein paar Minuten möglichst engagierter, innerer und äußerer Bewegung sind alle schon dabei. Lebhafte Begegnung ist dabei deutlich wirksamer als skandierendes Stampfen – wir wollen ja aufwecken, nicht ermüden. Engagiertes Erzählen und Diskutieren bringen das träumende Gefühlsleben zum Erwachen – hier müssen sich, so Steiner in diesem Vortrag, Gedächtnisbildung und Pflege der Phantasie die Waage halten, damit wir nicht ungesund auf die Wachstumskräfte der jungen Menschen wirken.
Im methodisch-didaktischen Kurs gibt Steiner eine umfassende und inspirierende Darstellung des idealen Erdkundeunterrichts: Hier begegnen sich viele verschiedene Fachrichtungen, denn es geht in der Geografie ja um die Begegnung von Mensch und Natur: Wie, so die zentrale Frage, entstehen wirtschaftliche Zusammenhänge aus den jeweiligen Naturgegebenheiten?
In kaum einem Fach haben sich die gesellschaftlichen Paradigmen im vergangenen Jahrhundert so geändert wie in der Geografie: Unser Verhältnis zu außereuropäischen Kulturen, die weltweite Klimakunde und der globale Handel haben die Pädagogik vor völlig neue Herausforderungen gestellt. Vielleicht ist Steiner auch hier seiner Zeit voraus, wenn er den Lehrern am elften Tag sagt: »Ihr müsst Kameraden der Naturentwicklung werden!«
Kameraden sind einander durch gemeinsame Aufgaben verbunden. Auf die Natur und ihre Entwicklung bezogen, heißt das, ich muss die natürlichen Prozesse zunächst verstehen können – nicht nur gedanklich, sondern auch auf der Beziehungsebene. Dann soll ich dafür sorgen, dass meine pädagogische Arbeit die Natur nicht schädigt – und ebensowenig der natürlichen Entwicklung der Kinder abträglich ist. Zusätzlich muss unser aller Verhältnis zur Natur bewusst gepflegt werden. Hier hat die Waldorfschule eine ihrer Zukunftsaufgaben: Das nachhaltige, kameradschaftliche Zusammenleben mit der Natur steht noch nicht ausdrücklich genug in unseren Lehrplänen und Schulprofilen, obwohl einige Einrichtungen schon hervorragende Pionierarbeit leisten. Sie entwickeln neue Wege, die Kinder so an die Welt heranzuführen, dass ihnen der sorgsame Umgang mit der Tier- und Pflanzenwelt ebenso ein Anliegen und eine Gewohnheit wird, wie die Freundschaften untereinander. Zu Steiners Zeiten wurde das noch nicht explizit gemacht – heute ist ökologische Sensibilität von solcher Zukunftsnotwendigkeit, dass sich eigentlich keine Schule diesem Impuls verschließen kann. Auch hier kann die Waldorfpädagogik durch ihr Weltbild einer beseelten, durchgeistigten Natur Vorbildcharakter haben.