Karibu in Kenia

Anne Hinder

»Karibu, Karibu«, ruft Rhoda Njeri laut und winkt freudig mit beiden Armen, als ein Kleinbus vor ihrer Tür parkt. Aus dem Bus steigen mit neugierigen Gesichtern die Gröbenzeller Waldorfschüler Jakob Matthias, Paul Schiffels, David Kern und Johannes Gerstendörfer, alle 17 Jahre alt. Aufgeregt rennt Rhoda zwischen den Elftklässlern umher und ruft abermals den suahelischen Willkommensgruß. »Das sind deine neuen Söhne Paul und Jakob!«, stellt der 32-jährige Betreuer Anthony Ngondi der Mama die Schüler vor und wendet sich dann an die Jungs: »Das ist eure afrikanische Mama für die nächsten zwei Wochen.«

Rhoda, von allen nur »Mama Rhoda« genannt, ist einen Kopf kleiner als die Jugendlichen, aber ein wahrer Wirbelwind. Bevor sich die vier versehen, sind sie schon ins Wohnzimmer verfrachtet und haben alle einen Teller mit Reis und Gemüse-Eintopf auf dem Schoß. »Es ist unhöflich, nicht zum Essen zu bleiben«, erklärt Anthony ihnen. Kein Problem für die Schüler, sie haben sowieso großen Hunger nach der vierstündigen Fahrt von Nairobi nach Githure, einem kleinen Dorf in der Provinz Kirinyaga, südlich des Mount Kenya.

Schülerfirma managt Macadamia-Vertrieb

Jakob, David, Johannes und Paul verbringen im Rahmen eines Projektes der Stiftung »Welt:Klasse« und der »macadamiafans« einen vierwöchigen Lernaufenthalt in Kenia. Neben kulturellem Programm in Kenias Hauptstadt Nairobi und deren Umgebung ist das Kernstück des Aufenthalts, für zwei Wochen ins afrikanische Dorfleben einzutauchen: Leben und arbeiten mit Macadamia-Bauern in Githure. In dem Dorf haben die Sozialunternehmer Matti und Hannes Spiecker 2009 angefangen, das »macadamiafans«-Projekt aufzubauen. Zu der Zeit war der Preis für Macadamia-Nüsse im Keller, aber die Bauern waren gezwungen, die billigen Preise der Zwischenhändler anzunehmen.

Die Brüder aus Deutschland sahen Potenzial in der Nuss, um ein Projekt aufzubauen, das von Mitarbeitern des kenianischen Netzwerks für Biolandbau KOAN gerne als »Vorzeigeprojekt in Kenia« gelobt wird: Sie stellten den Bauern in und um Githure Ressourcen und Know-How für den Biolandbau zur Verfügung und bauten eine kleine Fabrik für die Verarbeitung der Nüsse auf. Von dort aus werden die Nüsse direkt nach Deutschland gebracht. Im Internet können alle Beteiligten die Kosten für die verschiedenen Zwischenschritte einsehen. Durch das Ausschalten von Zwischenhändlern, verbesserte Vertriebswege und den Verkauf von größeren Packungen wird viel Geld gespart. Die Bauern bekommen mehr Geld für ihre Nüsse und die Konsumenten einen Preis, der alle anderen Anbieter auf dem Markt schlägt.

Gemanagt wird der Vertrieb der Nüsse in Deutschland unter anderem von Schülern der Rudolf-Steiner-Schule Gröbenzell, die sich zur Schülerfirma »Macadamia-Fans Gröbenzell« zusammengeschlossen haben. Das heißt Schulstunde mal anders: Durch learning-by-doing kennen die Schüler sich inzwischen bestens mit Wertschöpfungsketten, fairem Handel, Verkaufsstrategien und Buchhaltung aus. Mit den erzielten Gewinnen konnten sich die vier Schüler einen Teil der Reisekosten nach Kenia finanzieren, um dort die Bauern zu besuchen und die gesamte Wertschöpfungskette der Nüsse kennen zu lernen. »Tatsächlich in die Welt der Bauern einzutauchen, ist für die Schüler eine ganz andere Erfahrung, als nur darüber zu lesen«, sagt Eva Assmann, Lehrerin der Schüler und gleichzeitig Projekt-Mitarbeiterin, »denn so können sie die Sinnhaftigkeit des fairen Handels erst wirklich erfahren und erleben.«

»Richtige Wände«, aber ein Eimer Wasser als Dusche

In Kursen wurden die Schüler auf kulturelle Unterschiede, mögliche Missverständnisse sowie auf die einfachen Lebensverhältnisse im Dorf vorbereitet. So sind auch Paul und Jakob nach einer kurzen Besichtigung ihres neuen Zuhauses positiv überrascht, dass es bei Mama Rhoda Strom und »richtige Wände« gibt. Trotzdem: Mama Rhoda, die ihren Mann vor sieben Jahren verloren hat und deren Kinder schon alle ausgezogen sind, lebt bescheiden in einem Haus, das etwas provisorisch aus Stein, Holz und Wellblech zusammengezimmert wurde. Statt einer Toilette gibt es ein Loch im Boden, statt einer Dusche einen Eimer Wasser zum Waschen. Jakob und Paul teilen sich ein etwa sechs Quadratmeter großes Zimmer, das gerade einmal Platz für zwei schlichte Holzbetten bietet. Gegen das Gequieke und Gegackere aus den Schweine- und Hühnerställen nebenan, bieten die dünnen Holzwände keinen Schutz – Jakob und Paul werden sich daran gewöhnen müssen, morgens schon vor Sonnenaufgang von den lärmenden Tieren aufgeweckt zu werden.

Die Gastfamilie von Johannes und David, der anderen beiden Münchner Schüler, ist für die Verhältnisse im Dorf wohlhabend. Gastmutter Lydia Njeru wartet vor dem großen Steinhaus und begrüßt ihre neuen »Söhne« nicht weniger herzlich. Sie wird nach ihrem Mann Eliud Njau einfach »Mama Njau« genannt. Ihr Mann ist Arzt und kommt deswegen meist erst spät am Abend nach Hause. Die 41-jährige Mama Njau bestellt das Haus und die Felder, die sie besitzen. Ihre drei Kinder gehen auf teure Internate und sind somit nur in den Ferien daheim. »Aber selbst wenn es unserer Familie im Gegensatz zu anderen hier sehr gut geht«, sagt Johannes, »sind sie für deutsche Verhältnisse noch arm.« Dass sein Gastvater als Arzt in führender Position in Kenia etwas weniger verdient, als in Deutschland eine Krankenschwester, hat ihn erstmal schockiert. »Aber das ist für die Verhältnisse hier unglaublich viel Geld«, merkt er an. Mit Hunger haben die Einwohner in Githure zwar nicht zu kämpfen. Sie können von den selbst angebauten land­wirtschaftlichen Erzeugnissen gut leben. Dennoch sind die Lebensumstände bescheiden. Die Kleinbauern im Dorf verfügen über ein durchschnittliches Monatseinkommen von umgerechnet etwa 60 Euro.

Gleich von Anfang an werden die Jungs voll in das Dorf­leben eingebunden. Es wird gemeinsam gegessen und diskutiert, Fußball gespielt, und natürlich wird hart gearbeitet. Daniel Muchira (20), ein großer, schlaksiger und fröhlicher junger Farmer, und die etwas ernste, aber immer freund­­liche Caroline Wanja (17), die gerade mit der Schule fertig geworden ist, sind ihre Betreuer im Dorf. Mit ihnen erleben die Schüler über mehrere Tage verteilt den gesamten Prozess der Macadamia-Nuss-Ernte.

Es passiert was, und das gibt Hoffnung

Seitdem die Macadamia-Fabrik – einer Burg ähnlich – ihre grauen Mauern auf einem Hügel in der Nähe des Dorfzentrums in den Himmel reckt, ist sie für viele Bauern ein Symbol der Hoffnung.  Am Anfang war es für die Spiecker-Brüder schwierig, Bauern vom macadamiafans-Konzept zu überzeugen. Die Bauern waren skeptisch, als die Fremdlinge von Biolandbau und verbesserter Wertschöpfungskette sprachen. Einige wurden von einem ähnlichen Projekt schon mal enttäuscht. Seitdem die Fabrik steht, sehen die Bauern aber, dass die zwei Deutschen es ernst meinen. Gut ein Jahr nach Beginn des Projekts können sich die Spiecker-Brüder vor Anfragen kaum noch retten. Über 270 Mitglieder haben sie inzwischen, fast täglich kommen neue Interessenten vorbei. Seit Beginn des Projekts stieg der Preis für das Kilo Macadamia-Nüsse von umgerechnet 20 Cent auf etwa 70 Cent. Die Tatsache, dass die Bauern nun Besuch von den Schülern aus Deutschland bekommen, gibt ihnen zusätzlich Hoffnung. »Wir merken, dass etwas passiert, dass die Menschen in Deutschland sich für uns interessieren«, sagt Bauer Jusius Mjasi. Die Bauern erhoffen sich von dem Projekt einen größeren Wohlstand: ein Haus aus Stein, eine Kuh, bessere Schulen für ihre Kinder …

»African Time« ist gewöhnungsbedürftig

»Die Leute hier haben so wenig und sind doch so glücklich und zufrieden mit dem, was sie haben, und beklagen sich nicht ständig, dass sie gerne mehr hätten. Und sie teilen das, was sie haben, so offen und herzlich, wie man sich das in Deutschland kaum vorstellen könnte«, sagt David etwas nachdenklich. In Kenia gilt es als Ehre, Gäste bei sich zu haben. Nachdem es sich herumgesprochen hatte, dass Gastfamilien für Schüler aus Deutschland gesucht werden, gingen über 400 Bewerbungen bei Betreuer und Organisator Anthony ein. Und dementsprechend herzlich werden die Schüler begrüßt: Wo auch immer sie im Dorf unterwegs sind, wird ihnen ein fröhliches »Karibu, karibu« entgegengerufen. Sie stehen immer im Mittelpunkt, alle wollen sie begrüßen, mit ihnen reden, sie einladen. An was sich die Schüler allerdings nicht gewöhnen konnten: Jeder Tag im Dorf ist gleich – schlafen, arbeiten, essen, nach »African Time« warten auf irgendetwas oder irgendjemanden. Der Alltag im Dorf wirkt eintönig auf sie. Daher mischt sich gegen Ende der zwei Wochen im Dorf unter den Abschiedsschmerz auch Freude, dass wieder etwas Neues passiert, dass auf sie noch ein paar Tage Programm in der Hauptstadt warten.

Dass es eine unvergleichliche Erfahrung war, darüber sind sich alle vier einig. Sie haben hier gelernt, was sie in keiner Schulstunde hätten lernen können. Und über noch etwas sind sie sich einig: Dass sie bestimmt nicht das letzte Mal in Kenia waren.