Klimawandel geht alle Menschen etwas an, sei es als Mitverursacher oder als Betroffene. Die wenigsten kennen den wissenschaftlichen Hintergrund, um die Zusammenhänge ganz bis auf den Grund und in allen Einzelheiten zu durchdringen. Müssen die meisten Menschen also irgendwelchen »Experten« Glauben schenken? Nein: Gerade als Lehrer ist man gefragt, den Schülern auch von solch komplexen Zusammenhängen ein Verständnis zu vermitteln, das ein gewisses Maß an Urteilsfähigkeit ermöglicht – eine echte Herausforderung!
Der Blick will erübt sein, der in der Fülle der Einzelheiten die ursprüngliche Fragerichtung nicht verliert. Wohin zielt die eigentliche Frage? In den »Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung« spricht Rudolf Steiner von der »anorganischen« und der »organischen« Natur. Versteht man diese als unterschiedliche Zugangsweisen zur Natur, als unterschiedliche Fragerichtungen, dann muss man nicht von Anfang an die Natur in »anorganisch« und »organisch« einteilen. Man kann ganz empirisch beobachten, welche Zugangsweise sich wo auf welche Weise als fruchtbar erweist.
Der »anorganische Blick« auf die Natur«
Bei der »anorganischen Natur« geht es darum, äußere Wirkungen zu erfassen – ein Ding wirkt auf das andere. Gefragt ist eine Vorgehensweise, die aus der Fülle der Welterscheinungen die für einen Effekt entscheidenden, von weniger wichtigen und völlig irrelevanten Faktoren trennt. Als Beispiel diene die Wurfparabel, also eine Bewegung im Schwerefeld der Erde. Dabei wird »Schwerkraft« als Einzeleffekt herausgearbeitet und in ihrer Gesetzmäßigkeit verständlich gemacht. Wobei zu bemerken ist: »Schwerkraft« tritt nirgends in der Erscheinungswelt als »reines Phänomen« auf! Es ist immer die analytisch-trennende Tätigkeit des Wissenschaftlers nötig – in Gedanken und im Experiment –, um sie zu fassen. Den Schülern führt man zum Beispiel vor, wie ein Stein und eine Feder in einem evakuierten Rohr fallen. In Luft würde das Bild völlig anders aussehen. Im Kontext der Klimadebatte wäre hier der Treibhauseffekt zu beobachten. Es gälte, die verschiedenen Faktoren sauber herauszuarbeiten, die diesen Effekt ausmachen, unter Ausschluss anderer Effekte, die zwar auch in der Natur auftreten, die aber auf andere Weise zustande kommen. Dies kann geleistet werden, auch mit Schülern, und zu einem Verständnis des herausgetrennten Einzeleffekts führen. Der wird auch nicht dadurch »widerlegt«, dass er unter gewissen Umständen nicht rein beobachtbar ist – ebenso wie auch die Fallgesetze nicht dadurch widerlegt werden, dass Stein und Feder im Wirbelsturm sich scheinbar nicht mehr danach richten.
Der »organische Blick« auf die Natur
Bei der »organischen Natur« geht es darum, zu studieren, wie ein als Ganzheit gefasster »Organismus« auf typische Art und Weise auf seine Umwelt reagiert. Hier interessiert also die »Eigenart eines Ganzen«, seine »innere Natur«. Das ist einerseits schwieriger – es gilt, einen »Typus« so zu fassen, dass er nicht unversehens zu einer Art jenseitiger oder metaphysischer Entität mit Willen oder gar Bewusstsein wird – aber andererseits auch naheliegender: Wir haben es hier mit der Welt als Ganzes zu tun, in die wir auch mit unserem eigenen Leben eingewoben sind. Man kann einen solchen Zugang ohne Weiteres auch zur Erde als Ganzes suchen und sie so durch den Blick, den man ihr zuwendet, zum »Organismus« machen. Atmosphäre, Hydrosphäre, Biosphäre und Lithosphäre würden dann als dessen »Organe« erscheinen. Ich frage dann nach der »inneren Natur« dieses Erdganzen, aber auf dieses und seine Organe kann natürlich auch von außen wiederum eine Wirkung ausgeübt werden.
Am Beispiel der Schwerkraft könnte betrachtet werden, wie die Landtiere gehen, die Vögel fliegen und die Pflanzen wachsen, jeweils ihrer inneren Natur gemäß. Denn die Schwerkraft hat ja die unterschiedlichsten Wirkungen – neben dem Fallen der Steine auch die Dichte der Atmosphäre, die Aufrechte des Menschen oder den Flug der Vögel. Würde nun die Schwerkraft durch irgendeinen Effekt deutlich verstärkt oder abgeschwächt, hätte das Folgen für alle diese Wesen: zunächst auf die Art, wie sie sich bewegen oder wachsen. Es würden aber auch, zuerst im Individuum, dann evolutiv Veränderungen eintreten, zum Beispiel in den Knochen. Es ist jedoch leicht zu sehen, dass diese Veränderungen nicht in trivialer Weise direkt aus dem Konzept »Schwerkraft = nach unten fallen« abzuleiten sind, etwa indem die Vögel tiefer fliegen. Außerdem hängen die Veränderungen entscheidend davon ab, wie sie im Verhältnis zum »Eigenrhythmus«, zur »eigenen Zeit« der betrachteten Lebewesen stehen. Schließlich müsste auch jedes Wesen einzeln studiert werden, da die Veränderungen nicht notwendigerweise die gleichen Wirkungen auf das eine wie auf das andere haben.
Genau so ist es nun auch mit dem Treibhauseffekt: Seine Wirkung ist nicht die einzige, die auf die Erde und ihre Organe ausgeübt wird, und ebenso ist deren Reaktion darauf nicht immer und zu jeder Zeit die gleiche. Zudem spielt es eine Rolle, wo und wie schnell Veränderungen im Haushalt der »Treibhausgase« eintreten, und was daneben sonst noch so alles mit der Erde geschieht, durch den Menschen (Land- und Forstwirtschaft, Wasserwirtschaft, Industrie) oder die Natur (Vulkanismus, Sonnenaktivität). Dass dies so ist, »widerlegt« in keiner Weise den Treibhauseffekt; es zeigt nur dessen vielfältige Ausdrucksweisen, so wie es oben für die Schwerkraft dargestellt wurde. Konkret kann er beispielsweise auch zu lokalen Abkühlungseffekten führen, zu verstärkten Stürmen und anderen klimatischen Veränderungen. Wobei »Klima« natürlich nicht dasselbe ist wie Wetter: Auch zwei Wochen Schnee im Winter bedeuten noch keine »Widerlegung der Klimaerwärmung«.
Kristallisation oder dauerndes Wachstum
Gesetzmäßigkeiten äußerer Wirksamkeiten im Sinne der »anorganischen Natur« zu erfassen ist wie eine Art innerer Kristallisationsprozess: »Unreines«, was nicht dazu gehört, wird ausgeschieden, und am Ende steht ein klar gefasster Gedanke: das Naturgesetz (oder das »Urphänomen«). Das ist befriedigend, weil der Weg ein klares Ziel und Ende findet. Die »innere Natur« eines Organismus oder der Erde zu erfassen, ist eher wie ein Wachstumsprozess, der niemals einfach fertig sein kann. Es geht darum, ein Bild zu malen und gleichzeitig immer auch zu verwandeln. Das ist anstrengender und nicht unbedingt befriedigend, weil es andauernde Anteilnahme erfordert. Von dieser Art sind aber die echten Fragen, die das Leben uns stellt. Wie beispielsweise die Frage: Ist unser gegenwärtig unbestritten immenser Ausstoß an CO2 für die vielfältigen Gleichgewichte des Erdganzen zu verkraften oder müssen wir uns bemühen, diesen Ausstoß zu verringern, wenn unsere Erde und ihre Bewohner uns lieb sind? Dies ist nicht nur eine Frage für unsere Neugier, sondern sie hat insofern eine moralische Dimension, als unser Handeln gefragt ist.
Die Klimaberichte sind eine wertvolle Quelle
Wenn man an den IPCC-Berichten (»International Panel on Climate Change«) etwas aussetzen will, so könnte man sagen: Sie behandeln diese Frage nach der »inneren Natur der Erde« eigentlich nicht, sondern sie untersuchen statt dessen eine Fülle von einzelnen äußeren Zusammenhängen; sie bleiben also auf der »anorganischen« Ebene. Dies tun sie allerdings mit aller gebotenen Sorgfalt: Es wird eine Unzahl an Wirksamkeiten und Effekten betrachtet, und zu allen Betrachtungen gehört auch immer eine kritische Analyse der Zuverlässigkeit der gefundenen Schlussfolgerungen. Daraus ergibt sich eine Fülle von Einzelheiten, die kaum jemand durchdringen kann.
Eine Menge Kritik funktioniert nun so, dass man sich aus der Fülle, die die IPCC-Berichte liefern, Einzelnes herauspickt und versucht, dies mit anderen, wiederum irgendwo herausgepickten Einzelheiten scheinbar zu »widerlegen«. Als Laie kann man so einen Streit nur mit Staunen verfolgen. Es entsteht dabei vor allem Unsicherheit und Verwirrung, und das ist zweifellos der Zweck mancher Gegnerschaft: Immerhin gibt es starke Lobbygruppen, die kein Interesse an einer größeren Wachheit der Menschheit auf diesem Felde haben!
Als Handlungsgrundlage reicht das Gesamtbild
Es ist aber auch möglich, in den IPCC-Berichten so zu lesen, dass sie das eigene Bild der Erde weiter entwickeln und vertiefen. Auch dazu geben sie eine Fülle von wertvollen Anregungen. Nicht das einzelne Ergebnis ist dann als solches interessant, sondern die Tatsache, dass es das Bild der Erde bereichert.
Wir wissen alle, dass Modellrechnungen mit vielen Unsicherheiten behaftet sind. Sie mögen mögliche Entwicklungsrichtungen vorausdenken, aber nicht die Wirklichkeit. Aber auch hier gilt: Wenn man das weiß und berücksichtigt, dann können auch diese Gedanken ihren Beitrag zur Vertiefung des Gesamtbildes leisten.
Schließlich kommt es für die eigentlich moralische Frage nicht darauf an, ob nun mit soundso vielen parts per million (ppm) CO2-Zunahme genau soundso viele Grad Temperaturzunahme verbunden sind. Eigentlich genügt es doch zu wissen, dass grundsätzlich die unbestritten massive CO2-Zunahme in der Atmosphäre eine Art »Erwärmungsdruck« ausübt. Vielleicht wäre dies überhaupt der bessere Ausdruck für das, was wir wirklich verstehen. Denn, wenn man »Erderwärmung« sagt, kommt doch gleich die Frage: Wieviel Grad in wievielen Jahren? Und auf die können wir nur mit optimistischen oder pessimistischen Schätzungen antworten.
Ein waches Bewusstsein ist entscheidend
Es gibt also diesen »Erwärmungsdruck«, aber eine gewisse Unsicherheit darüber, wie lange die Erde ihm standhalten kann, oder was passiert, wenn sie es nicht mehr kann. Aber ist dies ein Grund, Maßnahmen gegen die weitere ungebremste CO2-Erhöhung für unsinnig zu halten? Doch genau im Gegenteil: Gerade unsere Unsicherheit müsste doch zur Vorsicht mahnen! Schließlich ist die Unsicherheit darüber, wann es in der Zukunft regnen wird, noch lange kein Grund, heute nicht das Dach zu decken.
Ein wenig erinnert mich die Menschheit in dieser Sache an einen Teenager, der vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben realisiert, dass er seinen früher doch so unendlich starken Eltern Leid zufügen kann – und er ist sich noch nicht so ganz klar darüber, wie er mit dieser Erkenntnis umgehen kann oder möchte!
Wenn man nun wirklich den CO2-Ausstoss der Menschheit senken will, dann stellt sich die Frage des »Wie«. Auch dies ist Neuland für die Menschheit! Welche Art von Verträgen braucht es, damit sie am Ende nicht nur wertlose Papiere und verlorene Hoffnungen sind? Sind »marktähnliche Anreize« wie CO2-Abgaben oder handelbare Zertifikate ein gutes Mittel oder laden sie zur Umgehung oder zum Missbrauch ein? Viel wird davon abhängen, wie diese Dinge nicht nur beschlossen, sondern in der Zukunft gehandhabt und weiter entwickelt werden. Und das hängt davon ab, in welcher Weise das Verständnis der Zusammenhänge des Erdganzen weiter wächst und im Bewusstsein bleibt, oder ob es durch Verwirrungsmanöver wieder eingeschläfert werden kann.
Zum Autor: Dr. Cornelius Bockemühl, Jahrgang 1957, Studium der Geologie, Mitarbeit in der Naturwissenschaftlichen Sektion am Goetheanum in Dornach, inzwischen in der Zementindustrie tätig.